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Gleichzeitigkeit in der Relativitätstheorie
eine empirische Studie zu Lernprozessen in der Sekundarstufe I
Herbert Wittmann
Art der Arbeit
Dissertation
Universität
Universität Wien
Fakultät
Fakultät für Physik
Betreuer*in
Martin Hopf
DOI
10.25365/thesis.24163
URN
urn:nbn:at:at-ubw:1-30167.67967.210163-9
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Abstracts
Abstract
(Deutsch)
Die Fragestellung, die dieser Arbeit zugrunde liegt, ist, ob ein Unterrichtskonzept entwickelt werden kann, das es bereits SchülerInnen der Unterstufe (fünfte bis achte Schulstufe) ermöglicht, die Relativität der Gleichzeitigkeit als logische Folgerung allgemeiner physikalischer Grundprinzipien (Relativitätsprinzip, Konstanz der Lichtgeschwindigkeit) zu akzeptieren.
In problemzentrierten Interviews wurden die Vorstellungen von elf 13- und 14jährigen SchülerInnen zu den Themen Geschwindigkeitsaddition und Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, Gleichzeitigkeit, Zeitdilatation sowie Längenkontraktion erhoben und die Bereitschaft getestet, relativistische Effekte zu akzeptieren. Es stellt sich heraus, dass sich bei fast allen interviewten SchülerInnen Konzepte zu absoluter Gleichzeitigkeit, absoluten zeitlichen Abständen und absoluten räumlichen Ausdehnungen finden lassen. Die meisten Interviewten erkennen aber in der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, die nicht abgelehnt wird, keinen Widerspruch zu diesen Präkonzepten, wahrscheinlich, weil die klassische Geschwindigkeitsaddition, die im Widerspruch zur Konstanz der Lichtgeschwindigkeit steht, nicht gut verstanden wird. Das Relativitätsprinzip in den jeweils dargebotenen Situationen, ideale Messgeräte, die das Geschehen aufzeichnen, und der Messprozess als Sammeln von Daten mit anschließender Auswertung werden gut akzeptiert. Die SchülerInnen halten die Messergebnisse für ebenso glaubwürdig wie andere Messergebnisse, die die SchülerInnen kennen. Sie verstehen, was es bedeutet, die Lichtlaufzeit in den Messprozess mit einzubeziehen und welche Bedeutung das für die Messergebnisse hat. Es besteht ein Interesse an einer logischen Erklärung für relativistische Effekte.
Aufbauend auf den Ergebnissen der Interviews wurde auf der Basis des Konzeptwechsels im naturwissenschaftlichen Unterricht und konstruktivistischer Lerntheorien der Prototyp eines Unterrichtskonzepts zur Relativität der Gleichzeitigkeit entwickelt. Die Wirksamkeit des Prototyps und die Akzeptanz von Erklärungsangeboten wurden in einem teaching experiment untersucht. Dieses bestand aus fünf Unterrichtsdurchgängen, in denen ich jeweils eine Schülerin und einen Schüler der achten Schulstufe gemeinsam unterrichtete. Nach jedem Unterrichtsdurchgang beurteilte ich aufgrund der Ausführungen der SchülerInnen die Wirksamkeit des Unterrichts und die Akzeptanz der gegebenen Erklärungsangebote. Weiters identifizierte ich die Vorstellungen und Konzepte der SchülerInnen und analysierte, wie und durch welche Interventionen sich diese Vorstellungen und Konzepte im Verlauf des jeweiligen Unterrichtsdurchganges veränderten. Auf den gewonnenen Daten basierend wurde das Unterrichtskonzept für den nächsten Unterrichtsdurchgang revidiert. Nach fünf Unterrichtsdurchgängen ergibt sich damit die Endversion eines Unterrichtskonzepts zur Relativität der Gleichzeitigkeit.
Im Zuge des teaching experiment konnten bei den SchülerInnen Hinweise zu Vorstellungen eines echten und eines scheinbaren Bewegungszustandes sowie einer echten und scheinbaren Geschwindigkeit gefunden werden. Echter Bewegungszustand und echte Geschwindigkeit sind Bewegungszustand bzw. Geschwindigkeit eines Körpers bezüglich eines als bevorzugt betrachteten Bezugssystems. Dieses dürfte aber weder als solches erkannt werden noch dringt dessen Rolle ins Bewusstsein der SchülerInnen. Darum werden der echte Bewegungszustand und die echte Geschwindigkeit wahrscheinlich als alleinige Eigenschaften der betrachteten Körper ansehen. Scheinbarer Bewegungszustand und scheinbare Geschwindigkeit sind Bewegungszustand bzw. Geschwindigkeit eines Körpers bezüglich eines anderen Bezugssystems. Es lassen sich Hinweise auf die Koexistenz beider Bewegungs- und Geschwindigkeitsbegriffe in der Vorstellung der SchülerInnen finden. Weiters gibt es Anzeichen auf die Vorstellung, Körper seien abhängig vom Bezugssystem, was dazu führt, dass diese neben der echten eine scheinbare Geschwindigkeit haben und vom Bezugssystem Schwung bekommen können. Für Licht gibt es Belege für die Vorstellung, dieses sei unabhängig vom Bezugssystem, was dazu führt, dass Licht nur eine echte, aber keine scheinbare Geschwindigkeit hat und vom Bezugssystem keinen Schwung bekommen kann.
Da die SchülerInnen mit hoher Wahrscheinlichkeit mit den Konzepten von echtem Bewegungszustand und echter Geschwindigkeit in den Unterricht kommen, ist es für das Erlernen des Relativitätsprinzips und damit für das Erlernen der Grundlagen der Relativitätstheorie notwendig, zunächst die Begriffe von scheinbarem Bewegungszustand und scheinbarer Geschwindigkeit in der Vorstellung der SchülerInnen zu etablieren. Es dürfte zweckmäßig sein, in weiterer Folge die Vorstellung zu stimulieren, Licht bewege sich im Gegensatz zu Körpern unabhängig von allen, die es beobachten. Dass Licht anders als Körper nur eine echte, aber keine scheinbare Geschwindigkeit hat, wird möglicherweise als erleichternde Überraschung aufgenommen.
Unter den günstigen Bedingungen des teaching experiment ist es gelungen, 14jährigen SchülerInnen die Relativität der Gleichzeitigkeit als Folgerung allgemeiner physikalischer Grundprinzipien (Relativitätsprinzip, Konstanz der Lichtgeschwindigkeit) zu vermitteln. Diese günstigen Bedingungen resultierten daraus, dass erstens sich die SchülerInnen freiwillig für das teaching experiment meldeten, wodurch sich eine Selektion nach Interessen und Motivation ergab, und zweitens das teaching experiment in einer Kleingruppe mit jeweils zwei SchülerInnen abgehalten wurde, was eine sehr intensive Betreuung ermöglichte.
Ich unterrichtete probeweise in einer Klasse der 12. Schulstufe die Relativität der Gleichzeitigkeit nach der Endversion des Unterrichtskonzepts. Aufgrund der Erfahrungen, die ich dabei machte, gehe ich davon aus, dass eine Übertragbarkeit der Endversion auf den Unterricht sowohl für die 8. als auch für die 12. Schulstufe gegeben ist.
Abstract
(Englisch)
This paper is based on the question of whether or not it is possible to develop a teaching concept that enables even students from grades five to eight to accept the relativity of simultaneity as a logical consequence of general physical principles (principle of relativity, invariance of the speed of light).
The conception of 13- and 14-year-old students concerning the addition of velocities, the invariance of the speed of light, simultaneity, time dilatation, and length contraction has been determined in problem-centered interviews. Furthermore, it has been determined throughout the course of these interviews to what extend the students accepted relativistic effects. It is apparent that the concepts of absolute simultaneity, absolute time intervals, and absolute space intervals could be identified in the conceptual understanding of almost all of the interviewed students. Most of the students have not rejected the invariance of the speed of light, but have not recognized a contradiction between this invariance and their preconceptions. This might have been caused by a lack of understanding of the classical addition of velocities that contradicts the invariance of the speed of light. In the situations discussed during the interviews, the principle of relativity as well as ideal measuring devices for recording the observations, and the measuring process as a collection and subsequent analysis of data have been well accepted. The students have considered the measuring results as reliable as other measuring results the students are familiar with in their everyday lives. They understood what it means to include the travel time of light into the measuring process and how this affects the measuring results. The students showed interest in a logical explanation of the relativistic effects.
Starting from the results of the interviews, a prototype of a teaching concept for the relativity of simultaneity has been developed on the basis of conceptual change in science education and constructivist learning theories. The effectiveness of the prototype and the acceptance of the proposed explanations have been evaluated in a teaching experiment. This teaching experiment consisted of five teaching episodes in each of which one male and one female eighth-grade-student were instructed. After each teaching episode, I evaluated the effectiveness of the instruction based on the students’ responses and the acceptance of the proposed explanations. Furthermore, I identified the conceptions of the students, analyzed the influence of different teaching techniques, how these techniques affected the students’ conceptions, and how these conceptions changed during the teaching episode. Based on the collected data, the teaching concept has been revised for the next teaching episode. After five teaching episodes, I developed the final version of a teaching concept for the relativity of simultaneity.
During the teaching experiment, I could find evidence for conceptions of a real and an apparent state of motion, as well as conceptions of a real and an apparent velocity. The real state of motion and the real velocity are the state of motion or the velocity of a body with respect to a reference frame that is considered to be preferred. This reference frame might not have been recognized as such by the students. They might also not have realized the role of this reference frame. That is the reason why the students probably regard the real state of motion of a body and the real velocity of a body to be a property of the body itself. The apparent state of motion and the apparent velocity are the state of motion or the velocity of a body with respect to another reference frame. I could find evidence for the co-existence of both concepts of motion and velocity in the conceptions of the students. Furthermore, I could find clues that the students have held the conception that bodies are dependent upon frames of reference. This implies that in addition to the real velocity, a body also has an apparent velocity and can gain momentum from a frame of reference. I could identify indications for the conception that light is independent of frames of reference. That implies that light has a real, but not an apparent velocity and cannot get momentum from a frame of reference.
Since it is highly probable that students hold the conceptions of a real state of motion and a real velocity before receiving instruction, it is necessary for the learning of the principle of relativity, and hence for the learning of the foundation of relativity theory, to first establish the concepts of the apparent state of motion and apparent velocity. It might be appropriate to stimulate the idea that light moves independently of all observers. The fact that light, as opposed to other bodies, only has a real but no apparent motion, might be accepted by the students as a relieving surprise.
Under the advantageous conditions of the teaching experiment, it was possible to convey the relativity of simultaneity as a consequence of general physical principles (principle of relativity, invariance of the speed of light) to 14-year-old students. On the one hand, these advantageous conditions resulted from the fact that the students volunteered for the teaching experiment. This created a sample group of interested and motivated students. On the other hand, the teaching experiment was carried out in small groups (two students in each teaching episode) with close supervision.
For testing purposes I taught the relativity of simultaneity in a 12th-grade class according to the final version of the teaching concept. Based on what I experienced there, I assume that it is possible to implement this final version in classroom instruction in grades eight and 12.
Schlagwörter
Schlagwörter
(Englisch)
physics education research empirical study problem-centered interviews teaching experiment conceptions of students relativity of simultaneity motion velocity teaching concept junior high level inertial systems invariance of the speed of light
Schlagwörter
(Deutsch)
Didaktik der Physik empirische Studie problemzentrierte Interviews teaching experiment SchülerInnenvorstellungen Relativität der Gleichzeitigkeit Bewegung Geschwindigkeit Unterrichtskonzept Unterstufe Sekundarstufe I Inertialsysteme Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
Autor*innen
Herbert Wittmann
Haupttitel (Deutsch)
Gleichzeitigkeit in der Relativitätstheorie
Hauptuntertitel (Deutsch)
eine empirische Studie zu Lernprozessen in der Sekundarstufe I
Paralleltitel (Englisch)
Simultaneity in relativity theory ; an empirical study about learning processes of junior high level students
Publikationsjahr
2012
Umfangsangabe
435 S. : graph. Darst.
Sprache
Deutsch
Beurteiler*innen
Rainer Müller ,
Franz Embacher
AC Nummer
AC10893516
Utheses ID
21608
Studienkennzahl
UA | 091 | 411 | |