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Das global vernetzte Dorf
Migrationsprozesse und ihre Auswirkungen am Beispiel von sechs Dörfern in der Westukraine im 20. Jahrhundert
Matthias Kaltenbrunner
Art der Arbeit
Dissertation
Universität
Universität Wien
Fakultät
Philologisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät
Studiumsbezeichnung bzw. Universitätlehrgang (ULG)
Dr.-Studium der Philosophie (Dissertationsgebiet: Slawistik, DK: Das österreichische Galizien und sein multikulturelles Erbe)
Betreuer*innen
Philipp Ther ,
Kerstin Susanne Jobst
Alle Rechte vorbehalten / All rights reserved
URN
urn:nbn:at:at-ubw:1-30110.06574.191464-9
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(Print-Exemplar eventuell in Bibliothek verfügbar)

Abstracts

Abstract
(Deutsch)
Thema dieser Dissertation ist die Untersuchung von Dörfern, die über Jahrzehnte hinweg von intensiven und lang anhaltenden Migrationsprozessen geprägt wurden. Die sich daraus ergebende Problematik wird an Hand von sechs Dörfern in der historischen Region Ostgalizien behandelt, welche bis 1918 zur Habsburgermonarchie gehörte und heute im Westen der Ukraine liegt. Die Migranten, die in den untersuchten Fallbeispielen beinahe alle nach Kanada gingen, und die zurückbleibenden Nicht-Migranten waren durch vielfältige Netzwerke miteinander verbunden. Die Vernetzung funktionierte nicht nur während der Migrationsbewegungen, sondern noch Jahrzehnte später, als die Migrationsprozesse selbst längst zum Erliegen gekommen waren. Um diesem Phänomen gerecht zu werden, muss eine Synthese zwischen Migrations- und Dorfgeschichte gefunden werden - eine "Mikrogeschichte des global vernetzten Dorfes", die das Dorf als sozialen Raum begreift, der durch die Netzwerke zwischen Migranten und Nicht-Migranten konstituiert wird. Während in den untersuchten Dörfern an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zunächst ganze Familien migrierten, um sich in Kanada als "homesteaders" permanent niederzulassen, kam es spätestens ab 1905 zu einer Transformation hin zu intendiert temporärer Migration, im Rahmen derer meist Männer allein migrierten und teils mehrmals zwischen Kanada und den Dörfern hin- und herpendelten. Erst dadurch konnte nicht nur traditionelle "Kettenmigration" entstehen, sondern es bildeten sich langfristige Netzwerke zwischen Migranten und Nicht-Migranten, die u. a. durch Rücküberweisungen aufrechterhalten wurden. Anders als im Fall der USA setzten sich die Migrationsprozesse nach Kanada auch in den 1920er Jahren fort, bis diese im Sommer 1930 durch eine restriktive Einwanderungspolitik als Folge der Weltwirtschaftskrise zu einem Ende kamen. Im Zuge des Zweiten Weltkriegs gelangten zahlreiche Dorfbewohner in die westalliierten Zonen - ehemalige NS-Zwangsarbeiter, Mitglieder der SS-Division Galizien, Flüchtlinge vor der Roten Armee -, von denen viele in den späten 1940er Jahren als sogenannte "Displaced Persons" nach Nordamerika gingen. Beinahe alle von ihnen nahmen auf Grund ihrer Erfahrungen eine prononciert antisowjetische Haltung ein. Gleichzeitig existierte in Kanada, anders als in den USA, eine große Gruppe von Migranten der Zwischenkriegszeit, die prosowjetisch sozialisiert worden war und diese politische Einstellung beibehalten hatte. Dies begünstigte nach der Entstalinisierung eine Intensivierung der Vernetzung zwischen Migranten und Nicht-Migranten, welche sich ab den frühen 1960er Jahren verstärkt in touristischen Reisen von Migranten in die Sowjetukraine ausdrückte, aber auch in Paketsendungen mit Textilien, die innerhalb der sowjetischen Mangelwirtschaft eine wichtige Funktion für die Dorfbewohner hatten. Nach der Eingliederung der untersuchten Dörfer in die Sowjetunion im Jahr 1944 tobte ein jahrelanger Partisanenkrieg zwischen dem antisowjetischen ukrainischen Untergrund und Truppen des NKVD. In der Folge wurden zahlreiche Dorfbewohner in sowjetischen Lagern inhaftiert oder in unwirtliche Regionen der Sowjetunion deportiert: Die meisten überlebten, viele kehrten ins Dorf zurück. Gleichzeitig kam es ab den 1950er Jahren zu neuen temporären bzw. saisonalen Migrationsprozessen, vor allem in die Südukraine und nach Nordrussland. All diese sowjetischen Migrationsprozesse entwickelten ebenfalls Netzwerke, die denen der kanadischen durchaus ähnelten. Die untersuchten Dörfer im Bezirk Snjatyn entwickelten sich nicht trotz, sondern dank der intensiven Migrationsprozesse und der dadurch kreierten Netzwerke und erlebten im Laufe des 20. Jahrhunderts, anders als viele andere Dörfer in Osteuropa, keine Entvölkerung. Der hohe Grad an globaler Vernetzung auch während der Sowjetperiode zwingt uns außerdem, die weit verbreitete Vorstellung einer hermetisch abgeriegelten Sowjetunion kritisch zu hinterfragen.
Abstract
(Englisch)
What analytical framework do we need in order to study villages shaped by intensive and long lasting migration processes? I tackle this question by scrutinizing six villages situated in Eastern Galicia, a historical region that has been part of the Habsburg Empire prior to 1918 and is now the westernmost territory of Ukraine. Migrants - who all went to Canada in my case study - and non-migrants left behind in the villages were closely interconnected to each other by manifold networks. This kind of interconnectedness proved to be amazingly persistent and did not lose its function even decades after the migration processes themselves had come to an end. In order to fully grasp this phenomenon, it is necessary to synthesize migration and village history, striving towards a "microhistory of the globally connected village". Thus the village is perceived as relational social space constituted by networks between migrants and non-migrants. After a short period of intended permanent migration at the turn of the nineteenth and twentieth centuries, when villagers left in entire families to homestead in the Canadian prairie provinces, we observe a sharp transition to intended temporary migration. From as early as 1905 onwards, mainly men, single as well as married, would go to Canada alone in order to earn money, sometimes commuting back and forth several times. While settlement brought about only traditional "chain migration", it was the intended temporary migrants who created robust networks with those left behind that would endure. Remittances sent back to the villages played a major role. In contrast to US-bound migration from Eastern Europe, which virtually stopped due to the restrictive immigration policy of the early 1920s, Canadian migration patterns thrived until the summer of 1930, when Canada also shut its doors to migrants as a result of the world economic crisis/Great Depression. After the relative sedentary period of the 1930s, many villagers left for the West in the turmoil of World War II: forced labourers deported to the German Reich who had escaped repatriation, soldiers of the "SS Galizien Division " and people who fled the Red Army formed a group called "Displaced Persons". Many of them migrated to North America in the late 1940s; almost all of them were staunchly anti-Soviet. At the same time, there was a large number of pro-Soviet interwar migrants who had no personal experience of Stalinism and thus had preserved their pre-war attitudes. They were the first ones to use the possibilities offered by de-Stalinization in the late 1950s. The numbers of migrants who visited Soviet Ukraine rose steadily, especially after 1961. There was a direct parcel service established in 1955 that enabled migrants to send textiles to the non-migrants (in particular kerchiefs). Within the Soviet economic system, where consumer goods were always in short supply, the parcels were of high significance. The incorporation of Western Ukraine into the Soviet Union in 1944 marked the beginning of a bloody anti-Soviet guerrilla war that provoked severe reprisals on the part of the NKVD. Many people were sentenced to long terms in labour camps or were deported to remote regions of the Soviet Union. Nevertheless, most of those exiled survived and many of them returned eventually after Stalin's death. At the same time, seasonal migration, mostly to the grain-growing areas of Southern Ukraine, became a certain substitute for urbanization processes, which went quite slowly in Western Ukraine. Both forced migration and labour migration created networks similiar to the Canadian ones. In contrast to many other villages in Eastern Europe, the globally connected villages survived, the twentieth century without being heavily depopulated. This was not despite but because of the variing migration processes and the global networks they generated - networks that were even strong enough to penetrate the Iron Curtain and therefore force us to rethink the common image of a hermetically sealed-off Soviet Union.

Schlagwörter

Schlagwörter
(Englisch)
Migration Networks rural history Ukraine Canada 20. century Cold War
Schlagwörter
(Deutsch)
Migration Netzwerke ländlicher Raum Ukraine Kanada 20. Jahrhundert Kalter Krieg
Autor*innen
Matthias Kaltenbrunner
Haupttitel (Deutsch)
Das global vernetzte Dorf
Hauptuntertitel (Deutsch)
Migrationsprozesse und ihre Auswirkungen am Beispiel von sechs Dörfern in der Westukraine im 20. Jahrhundert
Publikationsjahr
2015
Umfangsangabe
682 S. : Kt.
Sprache
Deutsch
Beurteiler*innen
Frank Sysyn ,
Per Anders Rudling
Klassifikationen
15 Geschichte > 15.03 Theorie und Methoden der Geschichtswissenschaft ,
15 Geschichte > 15.08 Sozialgeschichte ,
15 Geschichte > 15.36 Europäische Geschichte 1815-1914 ,
15 Geschichte > 15.38 Europäische Geschichte nach 1945 ,
15 Geschichte > 15.71 Osteuropa ,
15 Geschichte > 15.86 Kanada
AC Nummer
AC12664703
Utheses ID
34608
Studienkennzahl
UA | 792 | 243 | |
Universität Wien, Universitätsbibliothek, 1010 Wien, Universitätsring 1