Detailansicht
Stille, Berühren, Leere
Annäherungen zur rituellen Entwicklung der Trauerfähigkeit im japanischen Butō Tanz von Ohno Yoshito
Michael Joseph Weiss
Art der Arbeit
Dissertation
Universität
Universität Wien
Fakultät
Fakultät für Sozialwissenschaften
Betreuer*in
Manfred Kremser
DOI
10.25365/thesis.14524
URN
urn:nbn:at:at-ubw:1-29236.05691.137960-3
Link zu u:search
(Print-Exemplar eventuell in Bibliothek verfügbar)
Abstracts
Abstract
(Deutsch)
Dieses Projekt ist der Versuch einer Annäherung an den während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandenen japanischen Butō-Tanz. Im Mittelpunkt stehen Ohno Yoshito, ein Butō-Meister, die zu ihm kommenden Tänzerinnen und Tänzer in seinem Studio in Yokohama sowie seine rituelle Weitergabe dieses Tanzes. Auf Basis der Einheit von Tanz und (Alltags-)Leben begleitet Ohno Yoshito die Tanzenden auf einem transformativen Erkenntnisweg, der von ihm entwickelten, performativen Ritualen getragen wird. Die Intention seines Butō besteht im körperlich-geistigen Erkennen der Nicht-Dualität der Leere (kū). Dies meint ein existentielles Gewahrsein der wechselseitigen Bedingtheit und Verbundenheit alles Phänomenalen (engi) sowie seiner Unbeständigkeit (mujō) zu verwirklichen. Ein solches Erkennen fußt auf der Realisation der Ich-Losigkeit im Unterschied zu einer Ich-Zentriertheit, die sich aus Sicht des Butō auf Nicht-Bedingtheit, Nicht-Verbundenheit und Beständigkeit gründet. Die tänzerische Manifestation soll sich aus einem nicht-dualistischen Verstehen heraus ereignen und in die Kreation eines genuinen Butō jeder Tänzerin und jedes Tänzers münden. Die performative Dynamik baut hierbei nicht auf einem festgelegten Bewegungsvokabular auf, sondern findet sich in einem momenthaften Geschehen strukturierter Improvisation wieder.
Der Fokus meiner partizipativen Forschung ― eingebettet in persönliche Butō-Erfahrung und eigenes Trauer-Erleben ― liegt auf der rituellen Entwicklung der Trauerfähigkeit in Ohno Yoshitos Butō. Trauer, die nicht verdrängt wird, ist eine emotionale Fähigkeit und kann durch ihre ressourcenorientierte Entwicklung zu einer empathischen Integration, Manifestation sowie Transformation von Verlust- und Leid-Erfahrungen führen. Hierdurch vermag Trauern zu einem Erkenntnisgeschehen zu werden. Der erforschenden Innenschau in die Dimensionen von Leid-Erfahrung (in ihrer Verbindung mit Trauer-Emotionen) und Empathie-Entwicklung kommt in Ohno Yoshitos Butō wesentliche Bedeutung zu. Beide Dimension können mit einer Veränderung des ich-zentrierten, dualistischen Geistes einhergehen, der von der Annahme einer Getrenntheit und Beständigkeit der Phänomene geprägt ist. Leid-Erfahrung (manifestiert in der Trauer) sowie Empathie-Entwicklung (manifestiert im Einfühlungs- und Mitfühlvermögen) gehören zu jenen Erfahrungsbereichen, in der eine Person am unmittelbarsten der anderen bedarf, am unmittelbarsten sich sowohl an andere wie an sich selbst wendet, und sowohl am unmittelbarsten wie im Unmittelbarsten ihres Seins berührbar zu werden vermag. Darum bergen die Dimensionen von Leid-Erfahrung und Empathie-Entwicklung ein Potential zur Transformation des ich-zentrierten, dualistischen Geistes in sich, der durch seine Identitätskonstruktion ― aus Sicht des Butō ― eine Illusion der Eigenständigkeit, Unabhängigkeit und Beständigkeit erzeugt. Der von diesen beiden Dimensionen gebildete Veränderungsprozess besteht in der rituellen Entwicklung der Trauerfähigkeit. Im Butō wird sie zu einem Erkenntnisgeschehen der Einfühlung und des Mitfühlens, das die Tanzenden auf existentielle Weise in ihrer personalen Gesamtheit zu berühren vermag. Durch die Trauer und ihre Entwicklung können sich infolgedessen ― unter ressourcenorientierten Voraussetzungen wie in Ohno Yoshitos Butō ― persönliche Erfahrungs-, Veränderungs- und Erkenntnisräume zu erschließen beginnen, in die hinein er die Tanzenden begleitet. Es sind dies Transit-Räume, die inmitten der Einheit von Tanz und (Alltags-)Leben zu einem nicht-dualistischen Gewahrwerden der Conditio vitae von Leben-und-Tod in ihrer Ganzheit versus ihrer Abspaltungen zu gelangen vermögen. Dieses Erkennen äußert sich im nicht-dualistischen Gewahrsein der wechselseitigen Bedingtheit und Verbundenheit alles Phänomenalen sowie seiner Unbeständigkeit. Darum ist die Trauer eine Fähigkeit, und ihre Entwicklung als einer rituellen Kunst des Trauerns wird im Butō Ohno Yoshitos zu einer existentiellen Ressource der Transformation, Erkenntnis und Empathie.
Zwei Forschungsfragen prägen dieses Projekt: Die erste bezieht sich auf die grundsätzliche Dynamik des rituellen Butō-Prozesses, die zweite auf die spezifische Dynamik der rituellen Integration der Trauer. Dies versuchte ich auf phänomenologische Weise zu verstehen. Dies meint gemäß des sensiblen Forschungsfokus, die Trauer und ihre Entwicklung möglichst so sehen zu können, wie sie sich von sich selbst her durch Ohno Yoshito, die Tänzerinnen und Tänzer sowie seine seine Butō-Weitergabe zeigt; wie sie, die Tanzenden, ihre Trauer und deren Entwicklung, erfahren, erfühlen, erleben und verstehen. Der Versuch eines solchen Gewahrwerdens ― innerhalb der Grenzen meiner Möglichkeiten ― führt dazu, dass diese Forschung in ihrer Essenz auf der Achtsamkeit in den personalen Beziehungen beruht und mein hier in Textform dargelegter Verstehensversuch der rituellen Entwicklung der Trauerfähigkeit im Butō Ohno Yoshitos sowie der zu ihm kommenden Tänzerinnen und Tänzer nur ein Versuch des Sich-Annäherns zu sein vermag ― offen für weiteres Erfahren, weiteren Dialog, weiteres Reflektieren.
Abstract
(Englisch)
This project is an attempt of convergence with Japanese butō dance which has been developed during the second half of the 20th century. In its center are Ohno Yoshito, a butō master, dancers visiting his studio in Yokohama, and his ritual transmission of the dance. Based on the unity of dance and (daily) life, Ohno Yoshito accompanies the dancers on a transformative path of insight through performance rituals developed by him. The intention of his butō consists of a body-mind-focussed realization of the non-duality of emptiness (kū). This means an existential awareness of the mutual conditionality and dependence of all phenomena (engi) as well as their impermanence (mujō). Such recognition is based on the realization of ego-lessness, in contrast to ego-centeredness, which relies―from butō’s perspective―on non-conditionality, non-dependence and permanence. The dancing process ought to occur from a non-dualistic understanding and shall lead to the creation of a genuine butō of each dancer. The performative dynamic thereby does not consist of a fixed vocabulary of movements, but happens in an immediate occurrence of structured improvisation.
The focus of my participatory research―embedded in personal butō dancing and own grieving experience―lies in the ritual development of the ability to mourn within Ohno Yoshito’s butō. Unsuppressed grief is an emotional ability; based on resource-oriented development, it can lead towards an empathic integration, manifestation and transformation of experiences of loss and suffering. Thus grieving can become a process of insight. Great significance in Ohno Yoshito’s butō lies on the exploratory introspection into the dimensions of the experience of suffering (in its association with grieving emotions) and the development of empathy. Both dimensions may be associated with a change in the ego-centered, dualistic mind which is marked by an assumption of a separation and permanence of phenomena. Experiences of suffering (manifested in grieving) and empathy development (manifested in empathizing and sympathizing) are among those areas of experience in which a person requires the presence of others in the most immediate way, turns towards her- or himself and others in the most immediate way, and is touched in her or his most direct areas of being. Therefore, dimensions of the experience of suffering and a development of empathy contain a potential for transformation of an ego-centered, dualistic mind which, by its construction of identity, seen from a butō perspective, creates an illusion of autonomy, independence and permanence. The process of transformation, formed by these two dimensions, consists in the ritual development of grief. In butō, this very ability evokes into being a process of insight, founded on empathy and compassion which is able to touch a dancer’s personality in an existential and integral way. Through grief and its development under resource-oriented preconditions as they exist in Ohno Yoshito’s butō, spaces of personal experience, transformation and insight can be developed into which he accompanies the dancers. These are transit areas, capable of deriving a non-dualistic realization of the conditio vitae of life-and-death in their entirety versus its dissociations amidst the unity of dance and (daily) life. Such understanding is expressed in the non-dualistic awareness of mutual conditionality and unity of all phenomena as well as their impermanence. Therefore, grief is an ability, and its development as a ritual art of grieving in butō turns into an existential resource of transformation, insight, and empathy.
Two research questions shape this project: the first refers to the basic dynamic of the ritual butō process, the second to the specific dynamic of the ritual integration of grieving. I tried to understand these dynamics in a phenomenological way. According to the sensitive research focus, this means to be able to see grief and its development as far as possible as it manifests itself through Ohno Yoshito, the dancers and his transmission of butō; as the dancers themselves experience, sense, perceive and understand their grief and its development. This attempt of becoming aware―within my own limitations―, means that this research is in its essence founded on mindfulness in personal relations; the attempt of understanding the ritual development of grief in Ohno Yoshito’s butō and the dancers experiencing his transmission, therefore only can be an attempt of convergence―and being open to further experience, further dialogue, further reflection.
Schlagwörter
Schlagwörter
(Englisch)
dance ritual non-duality grief empathy
Schlagwörter
(Deutsch)
Tanz Ritual Nicht-Dualität Trauer Empathie
Autor*innen
Michael Joseph Weiss
Haupttitel (Deutsch)
Stille, Berühren, Leere
Hauptuntertitel (Deutsch)
Annäherungen zur rituellen Entwicklung der Trauerfähigkeit im japanischen Butō Tanz von Ohno Yoshito
Publikationsjahr
2011
Umfangsangabe
IX, 962 S. : Ill.: graph. Darst.
Sprache
Deutsch
Beurteiler*innen
Manfred Kremser ,
Brigitte Marschall
Klassifikationen
24 Theater > 24.15 Tanzkunst, Bewegungskunst ,
73 Ethnologie > 73.57 Kulte, Riten
AC Nummer
AC08568896
Utheses ID
13028
Studienkennzahl
UA | 092 | 307 | |
