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"daß man wol an fremden und vorigen schaden klug werden möchte."
Aspekte einer pragmatischen Historiographie bei Gottfried Arnold
Markus Sturn
Art der Arbeit
Dissertation
Universität
Universität Wien
Fakultät
Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät
Betreuer*in
Karl Vocelka
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Alle Rechte vorbehalten / All rights reserved
DOI
10.25365/thesis.233
URN
urn:nbn:at:at-ubw:1-29893.44393.119670-1
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Abstracts

Abstract
(Deutsch)
Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie ist die wirkungsmächtige Aufzeichnung einer ebenso zeitlosen wie auch zeitspezifischen Botschaft. Jahrhundertelang beeindruckte der Text durch seine außergewöhnliche Offenheit und Toleranz, dennoch ist die Mitteilung konkret an die Wahrnehmung des Menschen um 1700 angepasst. Schriften in der Volkssprache weiteten damals den Leserkreis und schufen auch dem Ungelehrten Gelegenheit zur Buchlektüre. Die Popularität der Historiographie erzeugte naturgemäß großen Widerhall, weshalb Befürworter sowie Gegner das Werk bald mit ihren Stellungnahmen und Kommentaren überhäuften. Auch die später einsetzende wissenschaftliche Beschäftigung mit der Kirchen- und Ketzerhistorie fand ihren Niederschlag in zahlreichen Publikationen, denen im Forschungsbericht eine tendenzielle Missachtung des Primärtextes nachgewiesen wurde, da sie gewöhnlich das Leben des Geschichtsschreibers und Theologen in den Vordergrund rückten. Biographische Umbrüche wurden ausgiebig erläutert, Arnolds Standort als mystischer oder radikalpietistischer Schreiber verortet. Gelehrte erhoben außerdem akademische Fragen nach historischen, philosophischen und theologischen Anschauungen und Konzepten, die in den historiographischen Text einflossen. So untersuchte Seeberg in seiner bedeutsamen Monographie beispielhaft Die Wurzeln der Kirchen- und Ketzerhistorie, indem er die geistesgeschichtlichen Säulen, auf denen das monumentale Geschichtswerk seiner Ansicht nach beruht, präzise entwarf. Oft vergaß die Wissenschaft allerdings über diesen vielfältigen Einflüssen jene bemerkenswerten zweckgerichteten Ausflüsse der volksnahen Arbeit, die bewusst den eingeengten Wirkungsbereich der universitären Welt durchbrach. Gemeinsprache, anschauliche Fallschilderungen, Sprichwörter sowie Bibelzitate flochten ein Gewebe vertrauter Bezüge zur fremdartigen oder dämonisierten Welt der Ketzer. Der Verfasser bekundete mit dieser zugänglichen Darstellung der Vergangenheit offensichtlich den Wunsch nach einem breiten Leserkreis. Verbunden mit diesem Bemühen um sprachliche Verständlichkeit war auch der Wille, eine nachvollziehbare Botschaft zu unterbreiten. Ein ungelehrter Leser an der Wende zum 18. Jahrhundert, dem sich die Schrift offenbar zuwandte, war wohl kaum an geschichtsphilosophischen Bezügen im Text interessiert, die Kirchen- und Ketzerhistorie diente also gewiss erbaulichen und belehrenden Zwecken. Ziel der vorliegenden Dissertation war deshalb, diesen nutzorientierten Absichten, denen die bisherige Forschung aufgrund ihrer ideengeschichtlichen, theologischen oder biographischen Ausrichtung wenig Beachtung beimaß, sorgfältig nachzuspüren. Das theoretisch-methodische Konzept des New Historicism leistet bei einem derartigen Untersuchungsgang gute Dienste, weil es die in den Kulturwissenschaften oft überbetonte Stellung des Autors und einzelner Rezipienten relativiert. Ein Text ist nach diesem Entwurf kein individuelles Schöpfungswerk, sondern vorwiegend Produkt seiner Zeitumstände. Persönliche Züge des Verfassers sowie des Lesers treten in den Hintergrund, denn das Hauptaugenmerk gilt der grundsätzlichen Überlegung, weshalb eine Schrift innerhalb eines bestimmten Kontextes Wirkung entfaltete. Untersuchenswert ist außerdem, auf welche Weise konkrete Ideen und Absichten in einem Werk transportiert werden. Vorrede und Allgemeine Anmerckungen von denen Kätzer=Geschichten der Kirchen- und Ketzerhistorie führen den Betrachter planvoll an die Geschichtsarbeit heran. Arnold stellt vorerst in einem Grundsatzbekenntnis fest, dass er keinesfalls Konflikte fördern will, sondern Erbauung sowie Einsicht bezweckt und warnt vor missbräuchlicher Interpretation seiner Darstellung, denn wer Unfrieden fördert, entfremdet das Werk seiner Bestimmung. Tatsächlich wird ihm sogar der Segen des Allmächtigen entzogen. Biblische Ermahnungen zum rechten Gebrauch der Schrift sind vielschichtig in die historiographischen Berichte eingebunden. Sie erzeugen in einer bibelkundigen Gesellschaft am Übergang zum 18. Jahrhundert vertraute Bezugspunkte zur Beurteilung historischer Ereignisse. Die geistige Anleitung der Heiligen Schrift, welche in der Arnoldforschung angesichts zahlreicher intertextueller Bezüge zu wenig Beachtung fand, bestärkt in der Vorrede wie auch im weiteren Verlauf der geschichtlichen Erzählung den christlichen Eifer und das Endzeitbewusstsein des Lesers. Ihre maßgebliche Bedeutung für den instruktiv-pragmatischen Charakter der Kirchen- und Ketzerhistorie wurde zur Ergänzung der bisherigen wissenschaftlichen Untersuchungen in der vorliegenden Dissertation ausführlich analysiert. Auch die Erzählerfunktion im Geschichtswerk fand kaum Berücksichtigung, da in der akademischen Auseinandersetzung Überlegungen zur Persönlichkeit und Ideologie des Verfassers regelmäßig den Primärtext überlagern. Ein mit dem Historiographen verbundener, aber dennoch von dessen biographischem Hintergrund losgelöster Erzähler präsentiert und kommentiert die Vergangenheit unter Verwendung von wirkungsvollen rhetorischen Stilmitteln. Außerdem erläutert er die Voraussetzungen für eine nutzbringende Lektüre der Kirchen- und Ketzerhistorie, stiftet ein Kollektivbewusstsein und lenkt den Erkenntnisgang. Dieser Führer durch die Vergangenheit ermuntert den Leser inständig, seine Gesinnung zu läutern, denn sonst bliebe die Beschäftigung mit der Schrift, die den aufrichtigen Betrachter von parteiischem Ballast befreit und zur Eigenständigkeit sowie Selbstverantwortung befähigt, vergeblich. Die Dissertation belegt eingehend eine religiös-aufklärerische Herausbildung des kritischen Denkens in der Kirchen- und Ketzerhistorie. Einfache Demonstrationen zeigen dem Leser beispielsweise die arglistigen Methoden der Ketzermacherei. Er lernt Autoritäten wie auch Dokumenten zu misstrauen und die Authentizität volkstümlicher Überlieferungen anzuzweifeln. Das Lügen und Schweigen der parteiischen Chronisten wird ihm anschaulich vorgetragen, ebenso die Feststellung, dass Orthodoxe mitunter als Ketzerapologeten auftreten und in der Weise zur Berichtigung verfälschter Mitteilungen beitragen: eine bemerkenswerte Lektion in methodischer Quellenkritik. Gleichzeitig stärkt die Kirchen- und Ketzerhistorie ein Grundvertrauen in die persönliche Urteilsfähigkeit des Ungebildeten, da Fallschilderungen allein mithilfe des individuellen Weltwissens und Erfahrungsschatzes lösbar sind. Der Erzähler stößt auch niemanden unvorbereitet in das engmaschige Netz historischer Zusammenhänge. Ganz langsam erfolgt eine Annäherung an verworrene Begebenheiten der Geschichte, aber das Grundgerüst der Verketzerung behält in jedem Jahrhundert seine Form. Wer einmal die Mechanismen der Unterdrückung erkannt hat, wird diese Muster in vielen Ereignissen wiedererkennen. Derart leitet die Historiographie den Leser zur Mündigkeit an. Fesseln der Abhängigkeit von Meinungen, Ideologien und Institutionen fallen ab. Obwohl die Lektüre der Kirchen- und Ketzerhistorie ausreichend Raum zur Entfaltung der autonomen Urteilskraft eröffnet, behält der Erzähler stets die Kontrolle über den geistigen Entwicklungsgang der Schrift. Bisweilen erklärt er unmissverständlich, wie ein verständiger, gescheiter und christlicher Beobachter in einer gewissen Situation denken und empfinden muss und bestimmt damit die Richtung aller Überlegungen. Die Erzählerfigur im Text trifft auch die Unterscheidung zwischen bedeutenden und unbedeutenden Vorkommnissen, denen weniger Aufmerksamkeit gebührt, lenkt die Bahn durch die Epochen und äußert überlegen kollektive Wünsche oder Ziele. Dem Leser werden dadurch gewissenhafte Denkübungen unter der Obhut eines Leiters ermöglicht. Als weiteres tragendes Prinzip einer instruktiv-pragmatischen Historiographie wurden Fallbeispiele, die als greifbare Vor- oder Warnbilder dienen, herausgearbeitet. Sie erleichtern dem Leser eine Überprüfung persönlicher Gedanken bzw. Handlungen und fördern zweckdienliche Ziele wie Einsicht und Besserung. Anhand des Vergleichs zwischen Arnolds Hauptwerk und dem Anderweitigen Versuch einer vollständigen und unpartheyischen Ketzergeschichte Johann Lorenz Mosheims, der im Titel dieser einige Jahrzehnte später erschienenen Schrift Bezug zur Kirchen- und Ketzerhistorie herstellte, wurde belegt, dass die Individualisierung einer Darstellung nicht notwendigerweise lehrhaften Wert besitzt. Mosheim fügte nämlich der Unparteilichkeit Vollständigkeit hinzu und erstickte damit alle Mahnungen im überspannten Streben nach vollständigem Schuldausgleich zwischen Servet und Calvin, wobei der Reformator trotz proklamierter Ausgewogenheit moralischer Sieger blieb. Arnold hingegen versah seinen Bericht über die Verbrennung des Antitrinitariers mit weniger Details, dafür aber mit einer eindringlichen Botschaft: Die Ermordung eines Menschen übersteigt als Sünde jedes religiöse Irren eines Häretikers. Keine besonderen Umstände oder Charakterschwächen können eine solche Tat aufwiegen. Während Mosheim um wissenschaftlich-nüchterne Exaktheit bemüht war, zielte die Schilderung der Kirchen- und Ketzerhistorie auf das Gefühl ihrer Leser ab, denen sie christliche Anteilnahme und Humanität lehrte. In seiner Arbeit stellte Arnold diesen erzieherischen Nutzen einer Erzählung regelmäßig über das Bemühen um positivistische Ganzheit. Die Wahrnehmung geistiger Mächte in der Geschichte gilt in dieser Dissertation ebenfalls als wichtiger Aspekt einer zweckgerichteten Historiographie. Nachrichten über sichtbare Auswirkungen göttlicher und satanischer Kräfte erweitern das Verständnis für die Machtverhältnisse auf Erden. Dieses Wissen schützt den Betrachter vor der List des Teufels und stärkt sein Vertrauen in den Beistand des Allmächtigen. Berichterstattung über die strafende und rettende Gewalt Gottes bewirkt also Ansporn zu einem christgemäßen Lebenswandel und Warnung vor sündigem Treiben. Der Leser muss erkennen, dass niemand außerhalb der Reichweite des göttlichen Armes steht. Selbst wenn der Geschichtsverlauf oft den Eindruck erweckt, dass Fromme in trostlosem Zustand verkommen, während Ungläubige im Überfluss schwelgen, ist Zweifel am gerechten Beistand des Schöpfers nicht angebracht. Die Kirchen- und Ketzerhistorie blickt hinter die Kulissen der sichtbaren Welt und entlarvt den Trugschluss, ein Gottesfürchtiger bleibe unbelohnt, denn in Wirklichkeit lenkt die göttliche Allmacht den Gang der Historie, was Arnold auch anhand der Zeitgeschichte seiner Gegenwart bestätigt. Das historiographische Werk schafft damit auf ausdrucksvolle Art Anreize zum Gottgehorsam. Apokalyptische Kennzeichen sowie Offenbarungen im Text zeugen schließlich vom anbrechenden Gerichtstag und mahnen den Sünder zur Umkehr vor Ablauf der Gnadenzeit. Das siebzehnte Jahrhundert war erfüllt von Visionen des göttlichen Strafurteils, und Kriege, Hunger, Pest sowie Elend galten als warnende Vorzeichen. Indem Arnold zahlreiche endzeitliche Weissagungen sorgfältig dokumentierte, verlieh er dieser Droh- und Rettungsbotschaft aufgrund der Popularität seiner Schrift eine hörbare Stimme. Im Bewusstsein des Lesers sollte die Naherwartung verheißener Dinge fest verankert werden. Mit der Anklage parteiischer Gegner des Chiliasmus befestigte die Kirchen- und Ketzerhistorie indirekt die Lehre eines irdischen Tausendjahrreiches Christi auf Erden. Niemals wird diese Idee ausdrücklich verleugnet, lediglich selbstsüchtige Seher erfahren Ablehnung. Wiederum ermuntert die Schrift zur eigenständigen Beurteilung der Kennzeichen und Voraussagen. Es gilt, den Beweggrund der Propheten zu ergründen. Bescheidene Lebensart und Gottesfurcht zeugen nach Arnold von Wahrhaftigkeit und Ernst, während unentwegte Selbstdarstellung zur Vorsicht mahnt. Die ungeprüfte Befolgung aller Verkündigungen scheint demnach ebenso verkehrt wie die prinzipielle Ablehnung jeglicher apokalyptischer Deutungen. Erkenntnisvermögen und Einsicht sind also notwendig, um ohne Hysterie oder Apathie das Gericht zu erwarten. Die Kirchen- und Ketzerhistorie wirkt somit zweifellos als vielseitiges historiographisches Lehr- und Erbauungsbuch, das auf der Grundlage geschichtlicher Fakten zum wahren Gottesdienst anleitet.
Abstract
(Englisch)
Gottfried Arnold’s Kirchen- und Ketzerhistorie (History of Church and Heresy) depict a convincing record of both a timeless and a timespecific message. Throughout centuries, his writing was valued for its frankness and tolerance. However, its message was adapted to the perception of the man of the 1700. Therefore, writings in vernacular expanded the circle of readers and left the layperson also with an opportunity for reading. However, previous academic discussions of Kirchen- und Ketzerhistorie have usually ignored those remarkable intentions of this popular work, which deliberately aimed for an expansion of the intellectual, university based world. Colloquial language, vivid examples, proverbs as well as bible quotations created familiar connections between the strange or demonised world of heretics and everyday reality. Aim of this dissertation is to examine those aspects, which have been overseen in previous historical, theological, and biographic approaches. The New Historicism, a theoretical-method oriented concept, has been the main source for this analysis since it keeps the equilibrium between the author’s position and the individual. The dissertation proves a religious-progressive development of critical thought based on Kirchen- und Ketzerhistorie. Simple explanations will illustrate some cunning methods of heresy. It will be aimed to help the reader to criticise well-trusted documents and the authenticity of traditional records. At the same time, Kirchen- und Ketzerhistorie encourages the use of and the confidence in personal discernment, since examples can be simply approached with the help of individual common sense and knowledge gained from experiences. This will lead in a gradual breaking free from opinions, ideologies and institutions. Although Kirchen- und Ketzerhistorie leaves sufficient room for interpretation, the author anticipated to stay in control of the spiritual/mental development of the work. Now and then, the analysis is given specific direction in outlining how a reasonable, intellectual and christian observer would identify and feel in certain situations. Further, the narrative writer discerns between important and insignificant incidents, directs the reader through the centuries and openly voices collective wishes and goals. To underline an additional principle of instructive-pragmatically historiography, illustrations are used, which will serve as both concrete example as well as warning. These make it easier for the reader to examine personal thoughts and actions and encourage insight and improvement. In his work, Arnold drew a continuous line between this educational benefit and the endeavour for positivistic unity. The perception of spiritual powers in history is seen as important aspect for an appropriate historiography. Reports about visible effects of godly and satanic powers increase the understanding of earthly power relations. Kirchen- und Ketzerhistorie aims to look behind the scenes of the palpable material world and encourages in an expressive way to godly obedience. Apocalyptical signs as well as revelations in the script describe the imminent Day of Judgment and sound an admonition for the sinner to convert. The seventeenth century was filled with visions of a godly judgement and wars, famine, pest and poverty served as forewarning. Arnold documented such apocalyptic predictions and due to the popularity of his writing made those messages of threat and safety known to a broad audience. Hence, the reader is encouraged to be absorbed by those expected promises. Kirchen- und Ketzerhistorie serves as a versatile historical textbook, which, based on historical facts, inspires to true worship.

Schlagwörter

Schlagwörter
(Englisch)
Gottfried Arnold Kirchen- und Ketzerhistorie heresy historiography
Schlagwörter
(Deutsch)
Gottfried Arnold Kirchen- und Ketzerhistorie Ketzerei 17. Jahrhundert Historiographie
Autor*innen
Markus Sturn
Haupttitel (Deutsch)
"daß man wol an fremden und vorigen schaden klug werden möchte."
Hauptuntertitel (Deutsch)
Aspekte einer pragmatischen Historiographie bei Gottfried Arnold
Publikationsjahr
2007
Umfangsangabe
330 S.
Sprache
Deutsch
Beurteiler*innen
Karl Vocelka ,
Martin Scheutz
Klassifikationen
15 Geschichte > 15.00 Geschichte: Allgemeines ,
15 Geschichte > 15.01 Historiographie
AC Nummer
AC05035779
Utheses ID
149
Studienkennzahl
UA | 092 | 312 | |
Universität Wien, Universitätsbibliothek, 1010 Wien, Universitätsring 1