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Die Stadt in der rumänischen Literatur
Laura Smochina
Art der Arbeit
Dissertation
Universität
Universität Wien
Fakultät
Philologisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät
Betreuer*in
Heinrich Stiehler
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Alle Rechte vorbehalten / All rights reserved
DOI
10.25365/thesis.19039
URN
urn:nbn:at:at-ubw:1-29268.98024.889661-7
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(Print-Exemplar eventuell in Bibliothek verfügbar)

Abstracts

Abstract
(Deutsch)
Diese Dissertation analysiert die rumänische städtische Literatur aus soziologischer Perspektive. Folgende Themen werden behandelt: die Stadt als soziologischer Begriff und als literarisches Thema, theoretische Voraussetzungen und soziale Bedingungen im rumänischen Raum, die Stadt in der Biografie rumänischer Schriftsteller und die Darstellung der Stadt (in der Form der Hauptstadt - Bukarest, Vorstadt - Mahala, Provinzstadt und fremde Stadt) in der rumänischen Literatur. Die „zensurierte“ städtische Literatur sowie die Literatur der nationalen Minderheiten werden auch berücksichtigt. Die Analyse zeigt, dass man keine klare Abgrenzung zwischen der Domäne der Literatur und der der Soziologie vornehmen kann, denn sowohl die Literatur, als auch die Soziologie, beschäftigen sich primär mit der Gesellschaft. Die Literatur liefert der Soziologie allerdings kein wissenschaftlich-statistisches Datenmaterial, sondern nur einen Überblick über das soziale Umfeld bzw. Metaphern und Ausdrucksformen, um soziale Phänomene verständlich zu machen. Die rumänische städtische Literatur wurde im 19. Jahrhunderts, gleichzeitig mit der Schaffung des modernen rumänischen Staates geboren. Als Augenzeuge dieses Prozesses kann daher die rumänische Literatur für die Soziologie interessante Daten über die Schwierigkeiten der Modernisierung der rumänischen Stadt sowohl auf der sozialen, als auch auf der architektonischen Ebene liefern. Da es nicht gleichgültig ist, in welcher Stadt der Schriftsteller lebt und wirkt - denn der Grad seiner Berühmtheit wird auch von Faktoren wie dem kulturellen Prestige der jeweiligen Großstadt sowie von der Sprache, in der er schreibt, beeinflusst - ist die Literatur für die Soziologie auch wegen einer weiteren Klärung der Begriffe unbedeutende Kultur oder peripheres Land interessant. Die Rückständigkeit der rumänischen Gesellschaft führte dazu, dass die rumänische städtische Literatur bzw. Romane voller Exkurse sind, die den Leser informieren und das Publikum erziehen sollen. Eine ihrer zentralen Figuren ist die des Emporkömmlings als emblematische Figur einer Gesellschaft, die unfähig ist, echte Werte zu schaffen. Weiters hat im rumänischen Raum die Rückständigkeit in Bezug auf Europa einen Nationalismus gefördert, der das Dorf schätzte und die Stadt ablehnte. Die abwertende Darstellung der Stadt ist im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der rumänischen Kultur bis zum Äußersten getrieben worden und weist Züge auf, die im westlichen Diskurs nicht zu finden sind. Die rumänische Stadt wird bis hin zu ihrer Existenz als solcher in Frage gestellt. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn der städtische Charakter der Hauptstadt Rumäniens angezweifelt wird und Bukarest mit einem Dorf verglichen wird. Die Ablehnung wird durch eine Gleichsetzung der städtischen Modernisierung nach westlichem Vorbild mit einer Maskerade ausgedrückt. Die Maskerade ist eine „Form ohne Inhalt“, wie sie von Titu Maiorescu in den 1860er Jahren genannt worden ist. Diese Idee wurde auch in den 1920er Jahren von Garabet Ibrăileanu oder in den 1980er Jahren von Mircea Martin vertreten, als diese zwei Literaturkritiker zeigten, dass die literarische rumänische Stadt keine Widerspiegelung der realen rumänischen Stadt darstellt, weil die rumänische Urbanität nie mit Zivilisation übersättigt gewesen wäre. Die Theorie der Formen ohne Inhalt sieht in der modernen rumänischen Stadt eigentlich einen Parvenü, der bloß imitiert und seinen Status nicht verdient, und ergänzt die abwertende Darstellung der Stadt mit einem Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber einem klar überlegenen westlichen Vorbild, von dem viele Rumänen glauben, dass es unerreichbar ist. Wodurch sich Rumänien wieder vom Westen unterscheidet, ist auch die Bedeutung und das Ausmaß dieser pro-ländlichen Strömung im nationalen Kulturleben. Während im Westen die antistädtische Strömung mit der städtischen Literatur koexistierte und eine Antwort auf diese darstellte, war in Rumänien die proländliche Haltung so dominant, dass diese fast ein Monopol bildete und bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts die Entwicklung der städtischen Literatur bremste. Der Kommunismus stellte einen Bruch dar und setzte diesem das Dorf verherrlichendem Nationalismus ein Ende, aber paradoxerweise schuf er ein neues, sozialistisches städtisches Rumänien mit einer traditionalistischen, ländlichen Mentalität, da das Regime Neuem gegenüber ablehnend stand, unflexibel sowie reformresistent war, alles kontrollieren wollte und deswegen die Gemeinschaft gegenüber dem Individuum bevorzugte. Die Stadt wurde nicht als Lebensform, sondern lediglich als Produktionsort betrachtet. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in der rumänischen Literatur wider. Im Laufe der Zeit lässt sich ein veränderter Zugang der Schriftsteller gegenüber der Stadt feststellen: von konkreten und theoretischen Aspekten im 19. Jahrhundert und in der Zwischenkriegszeit, als man ein rumänisches Modell der Stadt entwarf, über ausschließlich konkrete/praktische Aspekte im Kommunismus, als man die Urbanität als Ort und nicht als Lebensform auffasste, zu paranormalen Aspekten im Post-Kommunismus, als man den Materialismus verwarf und eine spirituelle Sichtweise wählte. Die unterschiedlichen Perspektiven der Autoren dürfen aber nicht ausschließlich durch die historischen rumänischen Rahmenbedingungen erklärt werden, da sie auch eine Folge der Entwicklung der Literatur in diesen zwei Jahrhunderten, vom Realismus zum Modernismus und Postmodernismus, darstellen. Was den rumänischen Fall besonders macht, ist die Tatsache, dass es heutzutage in den rumänischen Sozialwissenschaften eine Tendenz gibt, die rumänische Urbanität nicht einmal als eine Provinz oder Kolonie von Europa, sondern als eine Mahala (eine Peripherie) zu betrachten. Zeitgenössische Autoren wie z. B. der Soziologe Adrian Majuru und die Literaturwissenschaftlerin Georgiana Sârbu versuchen zu beweisen, dass die zeitgenössischen rumänischen Städte von der Mahala überwältigt seien. Da Mahala ein Begriff türkisch-arabischer Herkunft ist, könnte man daraus den Schluss ableiten, dass die rumänische Urbanität nicht-okzidentale Eigenschaften aufweist. In der Tat beweisen die pejorativen Merkmale der Mahala, die heutzutage als Symbol des Kitsches, der Unfeinheit und der Rückständigkeit gilt, das Vorhandensein einer Erinnerung an die osmanische Herrschaft im kollektiven Gedächtnis, die immer noch in einen abwertenden Gegensatz zur westlichen Zivilisation gestellt wird. Daher wird in der rumänischen Literatur die westliche Stadt als positives Vorbild und als Symbol der Freiheit dargestellt. Die postkommunistische rumänische städtische Literatur, die ich analysiert habe, zeigt, dass die Literatur kein Interesse an diesem Phänomen der Ausbreitung der Mahala hat, die ein weiteres Beispiel für die akute Wertekrise in der rumänischen Gesellschaft darstellt. Die Literatur ist nach wie vor in erster Linie mit den langfristigen Auswirkungen des Kommunismus beschäftigt. Dies ist ein Beleg dafür, dass für die Schriftsteller die Einschränkung der Meinungsfreiheit weitaus besorgniserregender ist als Vulgarität und Geschmacklosigkeit, die in der Literatur sogar manchmal als Ausdruck der Freiheit interpretiert werden.
Abstract
(Englisch)
The present thesis explores Romanian urban literature from a sociological perspective. The following topics are discussed: the city as sociological object and as literary theme; cultural and social significance of the city in Romania; representation of the city in the biography of Romanian writers and the city (as capital city – Bucharest, suburb – Mahala, provincial town and foreign city) in Romanian literature. Censored literature and the literature of ethnic minorities are also addressed. The thesis shows that it is difficult to make a clear demarcation between literature and sociology, as both focus on society. However, literature provides no scientific and statistical data for sociological research, but only an overview of the social context, metaphors and forms of expression, in order to make social phenomena intelligible. Romanian urban literature was born in the 19th century, concomitant with the creation of the modern Romanian state. As a witness of this process, Romanian literature may therefore provide interesting data about the modernization problems of the Romanian cities, both on the social, as well as at the architectural level. Romanian urban literature is also of interest for sociology for further clarification of the terms „insignificant culture“ or „periphery country“, as it is not irrelevant in which city the writer lives and works, as long as his fame is influenced not only by the prestige of the language of his writings, but also by the cultural prestige of his city. The backwardness of Romanian society makes the urban literary works full of digressions aimed at instructing the reader and forming a literary public. Moreover, the most important character in Romanian urban literature is the parvenu, and he is emblematic of a society who fails to promote real values. Furthermore, this backwardness by comparison with Western Europe promoted in Romania a nationalism that valued the rural over the urban. The derogatory representation of the city was carried to an extreme in the 19th century and in the first half of the 20th century in Romanian culture and displays features that are not to be found in the Western discourse. The existence as such of the Romanian city was called into question and even the urban character of the Romanian capital Bucharest was disputed, as it was compared to a great village. The rejection of the city was also expressed through the comparison of the urban Western-like modernization with a masquerade, which was called "forms without substance" by Titu Maiorescu in the 1860s. This idea was reasserted by Garabet Ibrăileanu in the 1920s and by Mircea Martin in the 1980s, as these two literary critics have shown that the literary Romanian city was not a reflection of the real Romanian city, because Romanian urban life had never been saturated with civilization. The theory of forms without substance actually conceived the modern Romanian city as a parvenu, because it merely imitated and did not deserve its status. The negative image of the city has expressed a feeling of helplessness towards a clearly superior Western model, about which many Romanians believe even today that it is unattainable. There is also another aspect as to how Romania differs from the West: the meaning and the magnitude of the pro-rural movements in Romanian cultural life. While in the West anti-urban tendencies coexisted with urban literature and were even a response to this, the pro-rural attitude was so dominant in Romanian culture that it almost monopolized the literary field until the early 20th century and delayed the development of urban literature. Communism represented a break with this rural-urban debate and put this rural nationalism to an end, but paradoxically, it created a new socialist urban society with a traditionalist, rural mentality. That is because the regime opposed new ideas, was inflexible and resistant to reform, wanted to control everything and therefore favored the community over the individual. The city was not considered a form of life, but only a production site. This trend can also be found in Romanian literature, where the representation of the city changed in time as follows: tangible and theoretical aspects in the 19th century and up to the interwar period, when a Romanian pattern of the city was established, only tangible and practical aspects in communism, when urbanism was conceived as a place and not as a form of life and the paranormal aspects in post-communism, when materialism has been rejected and a spiritual perspective adopted. However, the different approaches of the authors cannot be explained solely by the Romanian historical context, since they also reflect the development of literature in these two centuries, from realism to modernism and postmodernism. The Romanian case distinguishes itself by the fact that nowadays there is a tendency in the Romanian social sciences to consider Romanian urbanism not even a province or a colony of Europe, but a mahala (a periphery) of Europe. Contemporary authors such as the sociologist Adrian Majuru and the literary critic Georgiana Sârbu try to prove that contemporary Romanian cities are overwhelmed by the mahala. Since mahala is a Turkish word of Arabic origin, this may allow the conclusion that Romanian urbanism has non-occidental features. In fact, it has to do with the negative characteristics of mahala, which nowadays is considered the symbol of kitsch, vulgarism and backwardness, and this demonstrates the presence of a collective memory of the Ottoman rule, which is still derogated by comparison with Western civilization. Therefore, the Western city is represented in Romanian literature as a positive role model and as a symbol of freedom. The post-communist literature that I have studied shows that literature has no interest in this phenomenon of the spread of mahala, which is supposed to stand for the acute crisis of values that continues to exist in Romanian society. However, contemporary Romanian urban literature deals primarily with the long-term effects of communism. This shows that the writers are far more concerned about the restriction on freedom of expression than about the vulgarity and tastelessness, which are actually seen as an expression of freedom in literature.

Schlagwörter

Schlagwörter
(Englisch)
city suburb mahala provincial town foreign city literature Bucharest
Schlagwörter
(Deutsch)
Stadt Vorstadt Mahala Provinzstadt fremde Stadt Literatur Bukarest
Autor*innen
Laura Smochina
Haupttitel ()
Die Stadt in der rumänischen Literatur
Paralleltitel (Englisch)
City in Romanian literature
Publikationsjahr
2012
Umfangsangabe
310 S.
Sprache
Beurteiler*innen
Heinrich Stiehler ,
Georg Kremnitz
Klassifikation
17 Sprach- und Literaturwissenschaft > 17.71 Literaturgeschichte
AC Nummer
AC09009945
Utheses ID
17058
Studienkennzahl
UA | 092 | 236 | 354 |
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