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Thilo Sarrazin und die bevölkerungspolitische Wende in der deutschen Familienpolitik
Nora Brandes
Art der Arbeit
Diplomarbeit
Universität
Universität Wien
Fakultät
Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät
Betreuer*in
Johanna Gehmacher
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Alle Rechte vorbehalten / All rights reserved
DOI
10.25365/thesis.21972
URN
urn:nbn:at:at-ubw:1-29293.97974.706265-1
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(Print-Exemplar eventuell in Bibliothek verfügbar)

Abstracts

Abstract
(Deutsch)
Die vorliegende Diplomarbeit setzt die von Thilo Sarrazin, in seinem 2010 publizierten Buch „Deutschland schafft sich ab“, formulierten bevölkerungspolitischen Thesen in Bezug zur deutschen Familienpolitik während der zweiten rot-grünen Legislaturperiode (2002-2005) und der Großen Koalition (2005-2009). Meine zentrale These ist dabei, dass durch einen Bedeu-tungsgewinn bevölkerungspolitischer Ziele in der Familienpolitik seit 2002 der Boden für Sarrazins Thesen bereitet wurde. Diese These wird in zwei Schritten überprüft: In einem ersten Schritt werden die Argumente, mit denen Sarrazin für bevölkerungspolitische Maßnahmen plädiert, mit jenen Argumentati-onsmustern verglichen, die auf familienpolitischer Ebene vorherrschen. Dazu wird auf Publi-kationen des Familienministeriums und der Familienministerinnen Renate Schmidt (SPD) und Ursula von der Leyen (CDU/CSU) zurückgegriffen. Dabei werden Kontinuitäten in den Ar-gumentationsmustern herausgearbeitet: Sowohl Sarrazin als auch die familienpolitischen Ent-scheidungsträger_innen plädieren für eine pronatalistische Politik, die sie mit dem Erhalt der sozialen Sicherungssysteme und wirtschaftlichem Wachstum verbinden. Ebenso erscheint beiden Seiten aus Gründen der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands auf dem Weltmarkt eine besondere Förderung der Geburtenrate von besser gebildeten Schichten wich-tig, während Zuwanderung nicht als Lösung des demografischen „Problems“ erachtet wird. Es zeigen sich aber auch Brüche: Während Sarrazin eindeutig eugenisch argumentiert, finden sich in den Quellen zur Familienpolitik keine erbbiologischen Annahmen über Eltern mit „besseren“ und „schlechteren“ Genen. Stattdessen dominiert hier die unhinterfragte Annahme, dass besser gebildeten Eltern die Bildung ihrer Kinder einfach „wichtiger“ sei. Das Problem der Selektivität der Bildungssysteme wird hiermit ausgeblendet und die Frage des Bildungs-niveaus in Deutschland zu einer der schichtspezifischen Geburtenrate umdeklariert. In der Frage der Zuwanderung findet sich sowohl in „Deutschland schafft sich ab“ als auch in den familienpolitischen Quellen eine Ablehnung derselben aus ökonomischen Überlegungen. Zu-wanderer_innen werden nach Kosten-Nutzen-Kriterien bewertet und ihre Integration als kost-spieliges Unterfangen erachtet. Sarrazin geht sogar noch weiter und unterlegt diese Überle-gungen zusätzlich noch mit kulturkämpferischen Tönen. In einem zweiten Schritt werden die von Sarrazin geforderten bevölkerungspolitischen Maß-nahmen einzeln aufgegriffen und im Kontext der deutschen Familienpolitik untersucht. Dabei zeigt sich, dass Sarrazins Maßnahmenkatalog bereits in der Familienpolitik, die der Publikation seines Buches vorausging, angelegt ist: Schon vor Sarrazin wurde aus pronatalistischen Gründen diskutiert, wie die Bildung dauerhafter (heterosexueller) Partner_innenschaften ge-fördert werden könnte. Zur Anhebung der Geburtenrate wurde der Ausbau der Kinderbetreu-ung vorangetrieben – ebenfalls eine Forderung Sarrazins. Überlegungen hinsichtlich der Ver-kürzung akademischer Ausbildungszeiten wurden von den familienpolitischen Entscheidungs-träger_innen ebenfalls schon Jahre zuvor angestellt, um die Mutterschaft von Akademikerin-nen zeitlich nach vorne zu verschieben. Das 2007 eingeführte Elterngeld als Entgeldersatzleistung während Kinderbetreuungszeiten sah die Geburtenförderung von Bes-serverdienenden vor – eine Maßnahme, die Sarrazin begrüßt. Auch die Differenzierung zwi-schen Eltern und Kinderlosen in der Rentenversicherung, wie Sarrazin sie andenkt, erinnert an das Pflegeversicherungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, das zu unterschiedlichen Bei-tragshöhen für Eltern und Kinderlose in der Pflegeversicherung führte. Betreffend Sarrazins Plädoyer für einen sozial selektiveren Familienlastenausgleich zeigt sich bei näherem Hinse-hen, dass der politische Trend schon vorher in eine solche Richtung ging, da das Kindergeld unter dem kindlichen Existenzminimum angesetzt wurde, während Kinderfreibeträge und andere steuerliche Absetzungsmöglichkeiten, von denen vor allem Besserverdienende profi-tieren, deutlich angehoben wurden. Sarrazins Forderung nach einer Ersetzung des Ehegatten- durch ein Familiensplitting, um so einkommensstarke Ehepaare mit mehr als zwei Kindern zu fördern, wurde von Teilen der CDU bereits 2006 aufgestellt – war jedoch aufgrund des Wi-derstands nicht nur der SPD, sondern auch der CSU nicht durchsetzbar. Einzig zur Gebärprä-mie für Akademikerinnen, die Sarrazin fordert, findet sich kein Pendant auf der familienpoli-tischen Ebene. Aus diesem Grund ist es auch interessant, dass in der Debatte über Sarrazins bevölkerungspolitische Thesen vor allem über diese Maßnahme diskutiert wurde, während die vielen familienpolitischen Parallelen bei den anderen Forderungen ausgeblendet wurden. Schließlich frage ich danach, was dieser Befund für das Geschlechterverhältnis bedeutet. Da-bei arbeite ich heraus, dass sowohl Sarrazin als auch die familienpolitischen Entscheidungs-träger_innen in erster Linie die Frauen für Kinderlosigkeit verantwortlich machen während Männer wenig beachtet werden. Auch die Differenzierung zwischen „erwünschten“ und „un-erwünschten“ Kindern erfolgt über die (potenziellen) Mütter. Dies weist auf spezifische ge-schlechtliche Rollenvorstellungen hin. Während die Familienpolitik seit 2002 aufgrund des Bedeutungsgewinns bevölkerungspolitischer Überlegungen aufgewertet wurde, wurde die Gleichstellungspolitik marginalisiert. Auch in „Deutschland schafft sich ab“ werden gleich-stellungspolitische Fragen wie etwa die geschlechtsspezifische Einkommensschere nicht the-matisiert. Die Analyse der familienpolitischen Maßnahmen zeigt, dass die Erwerbstätigkeit von Müttern nicht mehr als Problem erachtet wird, was zumindest für Westdeutschland ein Novum ist. Gleichzeitig haftet den besprochenen Maßnahmen jedoch eine soziale Selektivität an: Während insbesondere das Elterngeld von besserqualifizierte Müttern als Förderung ihrer Erwerbstätigkeit und Ausweitung ihrer Wahlmöglichkeiten erfahren wird, dominiert für schlechterqualifizierte Mütter und Alleinerziehende der Erwerbszwang, da familienpolitische Leistungen wie das Elterngeld oder der Kinderzuschlag an die Aufnahme einer (auch schlecht bezahlten) Erwerbsarbeit geknüpft werden. Nach wie vor ist jedoch keine geschlechtergerech-te Teilung von Erwerbs- und Familienarbeit in Sicht und die Botschaft der besprochenen Maßnahmen lautet, dass die Vereinbarkeit für Mütter verbessert werden soll, während sich für Väter nur wenig ändert. Gleichzeitig wird durch Formen der gemeinsamen Besteuerung von Ehegatten wie dem Ehegatten- oder Familiensplitting die Nichterwerbstätigkeit von Frauen mit einem gut verdienenden Ehemann gefördert. Insbesondere bessergestellten, verheirateten Frauen wird somit die Option des Alleinernährermodells offengehalten. Ehegatten- und das Familiensplitting gehen ebenso wie die Differenzierung zwischen Eltern und Kinderlosen in den Versicherungssystemen von einem Blick auf Familie aus, der Familie als ein Ganzes be-trachtet und geschlechterspezifische Ungleichheiten innerhalb der Familie ausblendet. Insge-samt ist dieser Maßnahmenmix höchst widersprüchlich: Es werden für Mütter Anreize bzw. Zwänge zur Erwerbstätigkeit gesetzt ohne, dass diese vollständig de-familialisiert werden. Denn weder führt der äußerst schleppende Ausbau der Kinderbetreuung dazu, dass die Mehr-heit aller erwerbswilligen Mütter einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachgehen kann, noch sind die zwei „Partnermonate“ des Elterngeldes genügend Anreiz für Väter, die Hälfte der Erzie-hungsarbeit zu übernehmen. Die hohe Teilzeitquote von Müttern, die weibliche Armut und weiterbestehende Abhängigkeit vom Partner begründet, ist ein Ausdruck dieser Politik. Vor diesem Hintergrund wird eine Emanzipation nur für hochqualifizierte Frauen ermöglicht, die in einem gut bezahlten Beruf arbeiten und es sich leisten können, Haus- und Kinderbe-treuungsarbeiten an bezahlte (weibliche) Arbeitskräfte zu delegieren. Eine Zusammenschau von Sarrazins Vorschlägen und des familienpolitischen Trends vor der Publikation seines Bu-ches zeigt so, dass sich auch für die geschlechterpolitischen Implikationen von „Deutschland schafft sich ab“ deutliche Parallelen auf der familienpolitischen Ebene in Deutschland finden.
Abstract
(Englisch)
This thesis puts the theories of Thilo Sarrazin about population policy, which he published in his book „Deutschland schafft sich ab“ („Germany abolishes itself“) in 2010 in context with German family policy during the second red-green legislative period (2002-2005) and the Grand Coalition (2005-2009). My central hypothesis is that the growing importance of demographic motives in family policy since 2002 prepared the ground for Sarrazin’s theories. This hypothesis is examined in two steps: Firstly, the arguments, which Sarrazin presents in favour of a population policy are compared to the arguments used in the field of family policy. Therefore I analyse publications of the ministry of family policy and of the ministers of family policy Renate Schmidt (SPD – Socialdemocratic Party) and Ursula von der Leyen (CDU/CSU – Christian Democratic Union/Christian Social Union). In doing so, continuities are found: Both Sarrazin and the family policy makers advocate a pro-natalistic policy, which is associated with the survival of the social security systems and economic prosperity. Furthermore, it appears important for both sides to stimulate the birthrate of well-educated layers in order to guarantee Germany‘s competitiveness on the world market. In contrast, im-migration is not seen as a solution for the demographic „problem“. But there are also fractures: Whereas Sarrazin's arguments are definitely eugenic, there is no evidence for genetic assumptions about parents with „better“ and „worse“ genes in the family policy source material. The assumption, that for well-educated parents the education of their children is more „important“ dominates instead. The problem of social selectivity in the education system is ignored and the level of education in Germany is declared to be a question of birthrates in different social classes. Immigration is rejected for economic reasons, both in „Deutschland schafft sich ab“ and the family policy documents. Immigrants are regarded in terms of how much they cost and how much profit they bring to the economy. The integration of immigrants is therefore seen as an expensive project. Sarrazin additionally highlights these considerations with intonations of war between different cultures. Secondly, the measures demanded by Sarrazin are picked up individually and analysed in context with German family policy. In doing so, it can be shown, that Sarrazin’s catalogue of measures is already present to a degree in family policy preceding the publication of his book: Even before Sarrazin, there was discussion about how to support the formation of lasting (he-terosexual) relationships using pronatalistic arguments. In order to increase the birthrate the improvement of child care was promoted. Also years before, family policy makers already thought about the reduction of academic periods of education in order to prepone the motherhood of academic women. The „Elterngeld“ („parents‘ money“) introduced in 2007 which replaces wages earned before leaving in order to raise the child, was designed to stimulate the birthrate of the higher-paid – a measure welcomed by Sarrazin. Also the diffe-rentiation between parents and childless people in the pension insurance as suggested by Sarrazin is reminiscent of the Federal Constitutional Court judgement about long term care insurance, which led to different contribution levels for parents and childless people in the long term insurance scheme. Concerning Sarrazin’s pleading for a more socially selective “Familienlastenausgleich” (a system of benefits and tax-deductible amounts for families in Germany), on closer inspection it can be seen that the political trend has already developed in such a direction: Child benefit was set below a child's poverty level, whereas child allowances and other tax-deductible amounts of benefit especially for the higher-paid were increased considerably. Sarrazin’s demand to replace the „Ehegattensplitting“ (married couples tax splitting: taxation of the total income of a married couple on the basis of equal halves) with a “Familiensplitting” (family tax splitting) in order to support married couples with high incomes and more than two children, was already put forward by parts of the CDU in 2006 – but it was not enforceable because of the resistance not only from the SPD but also from the CSU (the Bavarian conservative regional party). Only for the birth premium, which Sarrazin demands, there is no pendant in the field of family policy. Therefore it is interesting, that the debate about Sarrazin’s theories about population policy was centred around this measure, whereas the many parallels in family policy were ignored. Finally I ask, what this result means for the relation of the sexes. This way I show that Sarrazin as well as the family policy makers primarily make women responsible for childlessness, whereas little attention is being paid to men. Thus, the differentiation between „desired“ and „undesired“ children happens to be a differentiation between „desired“ and „undesired“ (potential) mothers. This points to specific gender role models. Whereas the importance of family policy increased since 2002 because of growing attention paid to popu-lation policy, equality policy was marginalised. The analysis of family policy measures shows that the employment of mothers is no longer considered to be a problem, which is a novelty at least for West-Germany. Simultaneously, a social selectivity inheres in the discussed measures: Whereas particularly the „Elterngeld“ is experienced by higher qualified mothers as a support of their employment and as extension of their options, lower qualified mothers and single parents are coerced to take up employment, since benefits of family policy like the „El-terngeld“ or the „Kinderzuschlag“ (child benefit top up) are linked to being in (even low paid) employment. Still, a gender equal division of paid labour and care work is not in sight and the message of the discussed measures is that the compatibility between family and job for mothers should be improved, whereas there is little change for fathers. Simultaneously, the existence of non-working women with a well-paid husband is supported by systems of joint taxation of married couples like the „Ehegattensplitting“ or “Familiensplitting”. Particularly for better-off married women there is still the option of the male breadwinner model. „Ehegat-tensplitting“ and “Familiensplitting”, as well as the differentiation between parents and childless people within the social security systems represent a view, where family is seen as a whole by ignoring gender-related inequalities within the family. On the whole, this mixture of measures is extremely contradictory: There are established incentives resp. compulsions for mothers in order to take up an employment without completely de-familialising them: Neither the extremely slow improvement of child care enables the majority of mothers willing to take up full-time employment to do so, nor are the two „Partnermonate“ („partner months“) of the „Elterngeld“ enough incentive for fathers to carry out half of the care work. The high rate of mothers working part-time, which is the basis of poverty and continuing dependence on their male partners, is a result of this policy. Against this background, emancipation is only possible for high-qualified women working in a well-paid job who can afford to delegate domestic and care work to paid (female) workers. When seen together, Sarrazin's proposals and the trends in family policy before publication of his book prove that there are visible parallels also between family policy and “Deutschland schafft sich ab” where gender political implications are concerned.

Schlagwörter

Schlagwörter
(Englisch)
Sarrazin, Thilo Deutschland schafft sich ab Germany population policy family policy gender policy demographic change
Schlagwörter
(Deutsch)
Sarrazin, Thilo Deutschland schafft sich ab Deutschland Bevölkerungspolitik Familienpolitik Geschlechterpolitik Demografischer Wandel
Autor*innen
Nora Brandes
Haupttitel (Deutsch)
Thilo Sarrazin und die bevölkerungspolitische Wende in der deutschen Familienpolitik
Publikationsjahr
2012
Umfangsangabe
206 S.
Sprache
Deutsch
Beurteiler*in
Johanna Gehmacher
Klassifikationen
15 Geschichte > 15.06 Politische Geschichte ,
15 Geschichte > 15.40 Deutsche Geschichte: Allgemeines
AC Nummer
AC09557753
Utheses ID
19626
Studienkennzahl
UA | 312 | | |
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