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Linguistische Analyse der Diskurse über die Werke von Jan Tomasz Gross zum Thema Antisemitismus in Polen
Katharina Czachor
Art der Arbeit
Diplomarbeit
Universität
Universität Wien
Fakultät
Philologisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät
Betreuer*in
Gero Fischer
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Alle Rechte vorbehalten / All rights reserved
DOI
10.25365/thesis.24589
URN
urn:nbn:at:at-ubw:1-29060.70232.566569-0
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(Print-Exemplar eventuell in Bibliothek verfügbar)

Abstracts

Abstract
(Deutsch)
Mit seinem Buch „Sąsiedzi: Historia zagłady żydowskiego miasteczka“, welches 2000 in Polen erschien, brach der Autor Jan Tomasz Gross, amerikanischer Professor polnischer Abstammung, mit einem der größten Tabus in der polnischen Gesellschaft – dem Opfermythos der polnischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkrieges. Das polnische kollektive Gedächtnis ist sehr stark auf der Tatsache aufgebaut, dass Polen nie mit den nationalsozialistischen Besatzern kollaboriert hat, wie dies zum Beispiel in Vichy-Frankreich und der Slowakei der Fall war. Dieses Narrativ wurde von Jan Tomasz Gross aufgebrochen. In seinem Buch berichtet Gross von der Ermordung der jüdischen Bevölkerung des ostpolnischen Ortes Jedwabne am 10. Juli 1941, die, nachdem sie am Marktplatz des Ortes zusammengetrieben worden war, in einer Scheune bei lebendigem Leib verbrannt wurde. Gross, der sich auf den Augenzeugenbericht des jüdischen Überlebenden Szmul Wasersztajn aus dem Jahr 1945, die Akten der Prozesse gegen jene an dem Verbrechen beteiligte Polen in Łomża aus den Jahren 1949 und 1953, ein 1980 veröffentlichtes Gedenkbuch sowie auf den 1998 von Agnieszka Arnold gedrehten Dokumentarfilm stützt, sieht dieses Verbrechen als eines, welches ausschließlich von der polnischen Bevölkerung begangen wurde, ohne die Beteiligung der deutschen Besatzer, und bezichtigt die polnische Gesellschaft, grundsätzlich antisemitisch zu sein. Seine Methode stellt einen neuen Zugang zu den Inhalten historischer Aussagen dar, da er den Augenzeugenbericht ohne historisch-kritische Untersuchungen anerkennt und auswertet, was auf heftige Kritik in Historikerkreisen stieß. Die Hauptkritikpunkte sind die mangelnde historische Methodik, die eingeschränkte Berücksichtigung von Quellenmaterial sowie die zu hoch angesetzte Zahl der Opfer durch den Autor. Die Debatte um das Buch „Sąsiedzi“ war die umfassendste aller Diskussionen der polnisch-jüdischen Beziehungen in Polen seit dem Zweiten Weltkrieg, zu der Hunderte von Artikeln erschienen und zahlreiche Internetseiten vorhanden sind, auf welchen die Thematik behandelt worden ist. Das Thema der Ermordung der Jüdinnen und Juden von Jedwabne fand sein Echo weit über die Grenzen Polens hinweg und wurde in vielen anderen europäischen Staaten ebenfalls zum Gegenstand des öffentlichen Diskurses. Mit seinen Büchern „Strach. Antysemityzm w Polsce tuż po wojnie. Historia moralnej zapaści“ und „Złote żniwa. Rzecz o tym co się działo na obrzeżach zagłady Żydów“, welche in Polen zum Einen im Jänner 2008 bzw. zum Andern 2011 erschienen sind, hat Jan Tomasz Gross erneut eine breite Debatte losgetreten. Die Vorwürfe, die Gross gemacht werden, reichen von unzureichender historischer Quellenarbeit über Schwarzweiß- Malerei bis zu Nestbeschmutzung und antipolnischer Hetze. Die vorliegende Arbeit legt ihr Hauptaugenmerk auf die sprachwissenschaftliche Analyse der Diskussionen rund um die Bücher „Sąsiedzi: Historia zagłady żydowskiego miasteczka“, „Strach. Antysemityzm w Polsce tuż po wojnie. Historia moralnej zapaści“ und „Złote żniwa. Rzecz o tym co się działo na obrzeżach zagłady Żydów“ in polnischen schriftlichen Medien. Diesbezüglich wurden themenbezogene Artikel in unterschiedlichen bekannten polnischen Medien wie Tageszeitungen, Wochen- und Monatszeitschriften sein, sowie auch offene Briefe analysiert. Die Arbeit zielt in keiner Weise darauf ab, die Werke von Jan Tomasz Gross oder die über die Bücher geführte Diskussion zu bewerten, sondern soll eine sachliche Analyse der Diskussionspunkte und Argumentationsstrategien darstellen, derer man sich in der Debatte bediente. Es wurden unter anderem Fragen nach den vorrangigen Themen oder Problemen untersucht, welche im Diskurs über das Buch beziehungsweise über den Autor behandelt werden. Welcher Vorurteile, Stereotypen und Rechtfertigungs- sowie Argumentationsstrategien bediente man sich im Diskurs über das Buch bzw. den Autor und kann man grundsätzliche Tendenzen in den jeweilig untersuchten Medien feststellen? In der vorliegenden Arbeit wird anhand der Beschreibung der von Ruth Wodak im Zuge ihrer Analyse antisemitischer Diskurse während des Präsidentschaftswahlkampfes 1986 in Österreich angewendeten diskurs-historische Methode, ein für die vorliegende Untersuchung zu verwendendes Analyseverfahren vorgestellt. Es wird durch Einbettung in den historischen Kontext der polnisch-jüdischen Beziehungen mit Fokus auf die Entwicklung des Antisemitismus in Polen sowie auf Ereignisse, welche eine entscheidende Rolle für das Verhältnis zwischen Polinnen und Polen und ihren jüdischen Nachbarn spielten, ein interdisziplinärer Ansatz gewählt. Dieser ist besonders darum notwendig, da die untersuchten Texte auf die polnische Vergangenheit Bezug nehmen und der geschichtliche Hintergrund für die Analyse unerlässlich ist. Im historischen Kapitel werden ebendieser geschichtliche Hintergrund, der die Debatten prägte, dargestellt und bestimmte Denkmuster und geschichtlich getragene Vorurteile herausgearbeitet. Jan Tomasz Gross hat mit seinen Publikationen „Sąsiedzi“, „Strach“ und „Złote żniwa“ in allen drei Fällen eine sehr emotionale Debatte unter der polnischen Bevölkerung und in den öffentlichen Medien ausgelöst. Die Analyse der Texte zeigt, dass das Buch „Sąsiedzi“ die polnischen Gemüter am meisten erregte. Es führte zu einer von Polinnen und Polen oft als schmerzhaft empfundenen Debatte, vor allem, da dieses Buch als eine der ersten Publikationen mit dem polnischen Opfermythos brach. Die Diskussionen wurden jedoch auch als positiver Anstoß für die polnische Selbstreflexion über die Geschichte Polens gesehen. Die Publikation „Strach“ wurde oftmals in direkten Vergleich zu dem Buch „Sąsiedzi” gebracht, Letzteres wurde in dem Zusammenhang sehr gelobt und als gesund und reinigend für die polnische Selbstreflexion über die Geschichte Polens beschrieben. Ein vielfach geäußerter Kritikpunkt an „Strach“ ist die Erstpublikation in den USA, wodurch sich nach Meinung vieler Kritikerinnen und Kritiker das Bild der polnischen Bevölkerung im Ausland verschlechtert hat und somit eine unbelastete Auseinandersetzung mit dem Buch nicht möglich gemacht wurde. Die Rezensionen des neuesten Werkes „Złote żniwa“ fielen vergleichsweise harmlos aus. Zwar wurde auch hier die Herangehensweise von Jan Tomasz Gross hinsichtlich seiner unwissenschaftlichen Arbeitsweise kritisiert, jedoch kann man in diesem Fall nicht mehr von einer ähnlich emotional aufgeladenen Debatte wie bei den beiden vorangegangenen Publikationen sprechen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Untersuchung der Diskurse über die Bücher „Sąsiedzi“, „Strach“ und „Złote żniwa“ von Jan Tomasz Gross in polnischen schriftlichen Medien vor allem gezeigt hat, dass in der Debatte von vielen Argumentations- und Rechtfertigungsstrategien Gebrauch gemacht wurde. So wurden oftmals Beispiele gefunden, warum Jüdinnen und Juden an ihrem Schicksal selbst Schuld waren, sei es aus Gründen der fehlenden Integration oder auf Grund dessen, weil sie mit der sowjetischen Besatzungsmacht sympathisiert hatten. Somit wird die eigene Schuld an den Verbrechen in Jedwabne 1941, Kielce 1946 und an den Bereicherungen in der Nachkriegszeit und die Verantwortung für diese Taten verdrängt, verharmlost und in manchen Fällen sogar abgeschoben. Hervorstechend war außerdem die Relativierung des jüdischen Leids, indem bewusst auf das schwere Schicksal der polnischen Bevölkerung auf die Auswirkungen des Kriegsalltages und die damit verbundene Desensibilisierung hingewiesen wurde, die als Rechtfertigung herangezogen wurde. Die Analyse zeigt deutlich, wie tief die Identifikation der polnischen Bevölkerung mit dem Bild der Opfernation noch immer verwurzelt ist. Dass der Zweite Weltkrieg im Allgemeinen eine sehr große Rolle im polnischen kollektiven Gedächtnis spielt, ist vor allem an offiziellen Gedenkritualen erkennbar, wie zum Beispiel an den Jahrestagen des Warschauer Aufstandes oder der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Erst Ende der 1990er Jahren wurde das Narrativ der polnischen Opfernation durch die Debatten um die Gedenkstätte Auschwitz und später auch durch die öffentlichen Diskussionen rund um die Bücher von Jan Tomasz Gross aufgebrochen. Dies geschah nicht einmal 10 Jahre, nachdem die polnische Bevölkerung erstmals ihrer Opfer ohne Instrumentalisierung der sowjetischen Regierung gedenken konnte. Dies ist wesentlich, um die Emotionalität der Debatten verstehen zu können. Über 40 Jahre lang lag das Erinnerungsmonopol alleine bei der kommunistischen Regierung in Polen, welche bewusst jene Geschichtsbilder tradierte, die für ihre politischen Ziele einsetzbar waren und den sowjetischen Machterhalt im Land stützten. Dieses Erinnerungsmonopol wurde einerseits aufgrund der repressiven Maßnahmen gegen antisowjetische Kritik sowie andererseits aufgrund der fehlenden Vielfalt unterschiedlicher Kriegserfahrungen und Erinnerungen, die der Auswanderungswellen jüdischer Überlebender geschuldet sind, nicht aufgebrochen. Der Mythos des kommunistischen Widerstandskämpfers stand fast ein halbes Jahrhundert im Mittelpunkt des polnischen Kriegsnarratives. Umso härter traf es die polnische Bevölkerung, dass das nach langer Zeit erkämpfte Bild Polens als Opfer nach so kurzer Zeit wieder revidiert werden musste.

Schlagwörter

Schlagwörter
(Deutsch)
Polen Jan Tomasz Gross Opfermythos Zweiter Weltkrieg Jedwabne Kielce Pogrom Diskurs
Autor*innen
Katharina Czachor
Haupttitel (Deutsch)
Linguistische Analyse der Diskurse über die Werke von Jan Tomasz Gross zum Thema Antisemitismus in Polen
Publikationsjahr
2013
Umfangsangabe
128 S.
Sprache
Deutsch
Beurteiler*in
Gero Fischer
Klassifikation
17 Sprach- und Literaturwissenschaft > 17.22 Sprachlenkung, Sprachpolitik
AC Nummer
AC10719776
Utheses ID
21972
Studienkennzahl
UA | 243 | 375 | |
Universität Wien, Universitätsbibliothek, 1010 Wien, Universitätsring 1