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"Wenn Gott nicht gewußt werden könnte, so wäre er kein Gott mehr."
der späte Schelling und das Ende des Wissens
Christian Wagnsonner
Art der Arbeit
Dissertation
Universität
Universität Wien
Fakultät
Katholisch-Theologische Fakultät
Betreuer*in
Kurt Appel
DOI
10.25365/thesis.28911
URN
urn:nbn:at:at-ubw:1-29609.01081.491062-2
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(Print-Exemplar eventuell in Bibliothek verfügbar)
Abstracts
Abstract
(Deutsch)
Die Arbeit untersucht die Bedeutung des Anspruchs, alles, auch Gott und die Dinge der Offenbarung, eigenständig, aber nicht unabhängig von der christlichen Offenbarung erkennen zu können, in Schellings philosophischen Einführungen seiner Münchner und Berliner Zeit (1827-1854).
Aufgabe der Philosophie ist nach Schelling nichts weniger als Welterklärung: Philosophie muss das Wirkliche begreifen, es als Wirkliches und als Ganzes begreifen, von einem durch sich selbst gewissen Prinzip her. Sie muss zu einem Ende kommen und ihre Ergebnisse müssen nachvollziehbar sein. Der Anspruch betrifft auch das Gott-Erkennen: Gott und die Dinge der Offenbarung haben in der Philosophie vollständig, eigenständig, aber nicht unabhängig vom geschichtlichen Faktum der Offenbarung und in ihrem Zusammenhang mit allem anderen erkannt zu werden. Auch der späte Schelling gibt diesen Anspruch nie auf, obwohl gerade das Scheitern der neuzeitlichen Versuche einer rationalen Vergewisserung des Prinzips zu seinem zentralen Thema geworden ist.
Es spricht manches dafür, diesen prononcierten philosophischen Anspruch nicht so rasch vom Tisch zu wischen, ihn nicht bloß auf eine persönliche Haltung, einen schon lange fremd gewordenen, etwas zu großzügigen, zu totalitären oder zu naiven Gestus des Denkens zurückzuführen. Schelling begründet diesen Anspruch vielmehr ausdrücklich. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die mangelnde Tragfähigkeit alltäglichen „Wissens“ sowie der bisherigen philosophischen Ansätze.
Wenn man mit Kant die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis stellt, wird die Trennung zwischen Erkennendem und Erkanntem, Subjekt und Objekt, Innen- und Außenwelt ausgesprochen problematisch. Fichte, Schelling und Hegel gehen von den Aporien und Problemstellungen Kants aus, bleiben aber nicht bei seiner transzendentalen Fragestellung nach den Bedingungen der Möglichkeit bloß des Erkennens stehen, sondern versuchen die Einheit von Subjekt und Objekt, Ich und Welt, dann auch theoretischer und praktischer Vernunft zu denken, indem sie die Frage nach dem Prinzip des Seins und der Wirklichkeit immer zugleich als Frage nach dem Prinzip von Erkennen und Erkennbarkeit stellen und umgekehrt.
In diesem Zusammenhang führen Analyse oder Reflexion aus Sicht Schellings nicht zum Ziel, weil sie in aller Regel den Subjekt-Objekt-Gegensatz verfestigen und in unproduktive Aporien münden. Die bevorzugte Methode ist deshalb systematische „Deduktion“ oder „Konstruktion“, an deren Ende nicht, wie es zunächst den Anschein hat, ein schönes neues Gebäude des Wissens steht, sondern in deren Verlauf Krusten, Verfestigungen des Denkens aufgebrochen werden sollen.
Im Rahmen der Welterklärung, die die Philosophie ist, muss ein Prinzip alles Wirklichen gefunden werden, das auch Prinzip jenes Entzogenen ist, worauf die Rede von Subjekt-Objekt, Ich, Bewusstsein und Selbstbewusstsein verweist: Prinzip der Freiheit. Das Prinzip alles Wirklichen muss selbst frei, aus sich selbst tätig sein, im eigentlichen Sinn anfangen können, seine Aktivität darf nicht auf Einwirkungen von anderswoher zurückzuführen sein, und es darf nicht von etwas anderem bestimmt oder bestimmbar sein: Es kann nur dann Prinzip sein, wenn es Bestimmung und Begrenzung überhaupt hervorzubringen imstande ist, Außen und Innen, Anfang, Ausdehnung und Zeit.
Wenn die Rede von Gott Sinn haben soll, dann muss er etwas mit Prinzip in diesem Sinn zu tun haben. Er kann nicht ein beliebiger begrenzter, bestimmter Gegenstand sein. Ebenso kann er auch nicht als etwas außerhalb der erkennbaren Welt angenommen werden, denn außerhalb des Denkens gibt es keine Etwasse, auch das Übernatürliche „ist nur ein relativer Begriff“, setzt Natürliches voraus und ist nur in Bezug auf dieses in irgendeinem Sinn verstehbar.
Schelling war sich der Endlichkeit jedes konkreten (auch seines eigenen) menschlichen Erkennens sehr wohl bewusst. Die nachvollziehende Rekonstruktion dessen, was als System allem Denken zugrunde liegt, ist selbstverständlich endlich und kann etwas außer sich haben. Aber aus der Einsicht, dass unser Denken gar nichts im eigentlichen Sinn denken könnte ohne Bezug auf den umfassenden Zusammenhang aller Bestimmungen, ergibt sich die Forderung, das noch Unbegriffene, aber irgendwie schon Gedachte, wie es die sog. ‚Dinge der Offenbarung‘ im Glauben sind, nachträglich eigenständig zu begreifen zu suchen, seinen Bezug zu allem, zum Prinzip aufzudecken.
Gott kann nicht bloß ein bestimmtes Einzelwesen sein und auch keine Bestimmung unter anderen, sondern zumindest auch der Inbegriff aller Bestimmungen, den Schelling „das Seiende“ nennt. Terminologisch knüpft Schelling dabei an Malbranche an, der als erster formuliert habe, dass Gott das Seiende sei; inhaltlich an Kants „Ideal der reinen Vernunft“.
Um zu „dem Seienden“ als Prinzip des Denkens und aller (Seins)Bestimmungen zu kommen, fragt Schelling nach dem unmittelbaren Inhalt der Vernunft, nach dem, was immer gedacht wird, wenn etwas gedacht wird. Von Grund auf wird nach Schelling dann gedacht, wenn das gedacht wird, was sein wird. Zuerst muss das (zukünftige) Wirkliche möglich sein: Die erste Bestimmung des Seienden ist also das Seinkönnende. Wenn das Seinkönnende radikal von seinem Seinkönnen her als unmittelbar Seinkönnendes gedacht wird, hindert es nichts daran zu sein, ist es „immer schon“ in das rein Seiende übergegangen, das die zweite Bestimmung des Seienden ist. Und damit beide nicht ineinander verschwinden, braucht es ein Drittes, das die Einheit beider ist und Seinkönnen und Sein als Unterschiedene und zugleich ineinander Übergehende bewahrt. Diese drei Bestimmungen des Seienden sind in ihrer Gesamtheit das, was alles ist, die Ursachen jedes bestimmten Einzelseienden und zugleich Ursache von dessen Erkennbarkeit. Sie sind Prinzip der Einheit von Denken und Sein, weil sie den Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt begründen. Die drei Momente und das Seiende in ihrer Einheit sind allerdings für sich selbst noch nichts und nicht wirklich. Sie können nur sein, wenn es etwas gibt, was sie ist. Und das nennt Schelling „das, was das Seiende ist“. Damit aus diesen ersten Bestimmungen nun alle anderen Bestimmungen hervorgehen können, dürfen sie nicht bloße Momente dessen bleiben, was das Seiende ist. Sie müssen vielmehr von ihm in Spannung gesetzt werden, um so als eigenständige Ursachen, „Potenzen“, anderen Seins in Erscheinung zu treten. Das eigentliche Prinzip ist also nicht das Seiende, sondern das, was die Potenzen in Spannung versetzt: das, was das Seiende ist. Das, was das Seiende ist, kann auf keine andere Weise die Entstehung einer Welt ermöglichen, die Momente des Seienden Ursachen anderen Seins werden lassen, als dass es sich zurücknimmt aus der Einheit, in der die Potenzen bloß seine eigenen Bestimmungen waren. Es kann anderes nur entstehen lassen, wenn es die eigene Einheit ‚suspendiert‘, sich verdrängen lässt, sich in die Möglichkeit, das Nichtsein, das Niegewesensein zurücknimmt.
Die negative Philosophie hat nun die Aufgabe, nach jenem Prinzip zu suchen, aus dem alles hervorgeht. Zu diesem Zweck lässt sie aus dem Seienden mit Notwendigkeit deduktiv und a priori alle konkreten Bestimmungen hervorgehen. Sie tut das so lange, bis nur mehr das übrigbleibt, was keine Bestimmung, kein Was mehr hat, das reine Dass, das bloß Existierende, das also der gesuchte Gegenstand, das wahrhaft Seiende, sein muss. Nur hat das Denken auf dieses reine Dass keinen Zugriff mehr, sie hat es bloß als Begriff.
Die positive Philosophie vollzieht eine Umkehrung: Sie verfügt über keinen nur ihr offenstehenden Zugang zum bloßen Dass und kann kein alternatives Prinzip anbieten. In ihr vollzieht die Vernunft ‚lediglich‘ eine Umkehrung ihrer selbst. Im Grunde besteht der Beginn der positiven Philosophie in einem Verzicht: im Verzicht darauf, das bloße Dass vor sich haben zu wollen, auf es zuzugreifen zu versuchen. Das bloße Dass bleibt auch in der positiven Philosophie dem Zugriff des Denkens
entzogen. Die positive Philosophie lässt das bloße Dass aber im Gegensatz zur negativen ungedacht hinter sich, unterwirft sich, und geht von ihm weg auf die Erfahrung zu. Durch dieses Weg- und Zugehen versucht sie zu erweisen, dass alles Wirkliche, auf das sie zugeht, im reinen Dass seinen Ursprung hat. Da das Wirkliche geschichtlich ist und die Geschichte auf Zukunft hin offen, ist auch der Erweis der positiven Philosophie nicht abgeschlossen, sondern auf Zukunft hin offen.
Positive und negative Philosophie bedürfen einander, bilden zusammen eine Philosophie. Das neuzeitliche Denken bis Hegel (inklusive seiner eigenen Frühphilosophie) ist aus Sicht des späten Schelling allerdings im negativen Denken stecken geblieben.
Die verschiedenen Formen der Religion, besonders Mythologie und (christliche) Offenbarung, denen sich die Spätphilosophie Schellings fast ausschließlich widmet, sieht Schelling als Momente eines realen sich verändernden Verhältnisses zwischen Gott und Mensch, konstitutiv für das konkrete geschichtliche Weltverhältnis des Menschen und die prozessual zu verstehende menschliche Subjektivität. Erst auf dem Hintergrund dieser Perspektive wird die umfassende Bedeutung der Umkehrung klar, die den Übergang von negativer zu positiver Philosophie markiert: Sie führt über Gestalten einer erneuten persönlichen Hinwendung zu Gott (mystische Frömmigkeit, Kunst, kontemplative Wissenschaft) hinaus und übersteigt die konkrete Offenbarungsreligion auf eine neue geschichtliche Form der realen Gottesbeziehung hin: die „philosophische Religion“.
Wie Übergang und Fortschreiten in der positiven Philosophie bei Schelling konkret vor sich gehen bzw. vor sich gehen könnten, ist eine in der Schellingforschung nach wie vor offene Frage. Im letzten Kapitel wird eine entscheidende Ambivalenz des philosophischen Vorgehens am Anfang der positiven Philosophie freigelegt und daran anknüpfend in Form eines Ausblicks eine mögliche Lesart positiver Philosophie skizziert. Schellings Versuche, das in der neuzeitlichen Philosophie bisher bloß gedachte Prinzip als wirklich zu denken, vermögen in der konkreten Durchführung nicht so recht zu überzeugen. Seine positive Philosophie sucht aber bemerkenswerte Wege im Umgang mit dieser Problematik: Ohne den Anspruch auf Welterklärung aufzugeben, enthält sie sich der rationalen Dingfestmachung des eigenen Prinzips, sieht den Anfang als das Geschehen einer Selbstentschlagung, eines Rückzugs ins Nicht- und Möglichsein, einer Virtualisierung und Dezentrierung des Prinzips, und setzt Ich, Bewusstsein, Wissen und Vernunft in den relativierenden Bezug einer nicht restlos rekonstruierbaren und nicht abgeschlossenen Bewusstseins- und Religionsgeschichte.
Schlagwörter
Schlagwörter
(Englisch)
Schelling German Idealism Mythology Christianity Theology Revelation Knowledge God
Schlagwörter
(Deutsch)
Schelling Deutscher Idealismus Mythologie Christentum Theologie Offenbarung Erkenntnis Gott
Autor*innen
Christian Wagnsonner
Haupttitel (Deutsch)
"Wenn Gott nicht gewußt werden könnte, so wäre er kein Gott mehr."
Hauptuntertitel (Deutsch)
der späte Schelling und das Ende des Wissens
Paralleltitel (Englisch)
"If God Could Not Be Known, He Would No Longer Be God." ; the late Schelling and the end of nowledge
Publikationsjahr
2013
Umfangsangabe
211 S.
Sprache
Deutsch
Beurteiler*innen
Kurt Appel ,
Johann Reikerstorfer
AC Nummer
AC11236003
Utheses ID
25811
Studienkennzahl
UA | 080 | 011 | |