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"Tausend Dank für dein Briefl"
eine Untersuchung weiblicher Lebenswelten im jüdischen Großbürgertum in Wien zwischen 1872 und 1937 anhand der Briefe von Mathilde Lieben an Marie de Rothschild
Lisa-Maria Tillian
Art der Arbeit
Dissertation
Universität
Universität Wien
Fakultät
Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät
Betreuer*in
Margarete Grandner
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Alle Rechte vorbehalten / All rights reserved
DOI
10.25365/thesis.29655
URN
urn:nbn:at:at-ubw:1-29643.00716.835153-9
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(Print-Exemplar eventuell in Bibliothek verfügbar)

Abstracts

Abstract
(Deutsch)
Die vorliegende Studie widmet sich auf Basis der über 1000 zwischen 1872 und 1937 entstandenen Briefe von Mathilde Lieben, geb. Schey, an ihre Cousine Marie de Rothschild, geb. Perugia, der Erforschung weiblicher Lebenswelten im jüdischen Großbürgertum in Wien. Die aus den Schriftstücken hervortretenden Informationen mit teils sehr persönlichem Charakter haben es ermöglicht, die konkreten Lebensumstände einer Vertreterin dieser Gesellschaftsschicht zu beschreiben, ihre Alltagssituationen und kulturellen Praxen zu verstehen, und sich auf diese Weise den historischen Realitäten von Menschen dieser Gruppe zu nähern. Ein elementarer Bestandteil der Lebenswelt in den unterschiedlichen Lebensphasen war die Familie. Fast zwei Drittel von Mathildes Briefen legen inhaltlich Zeugnis davon ab, dass Alltagserfahrungen innerhalb der Kern- sowie der weitverzweigten Großfamilie mit den unterschiedlichen Generationen und Geschlechtern eine maßgebliche Rolle in ihrem Leben spielten. Ein „Markenzeichen“ – freilich nicht nur des jüdischen Großbürgertums – war der ausgeprägte Familiensinn, und die Klammer zwischen den einzelnen Mitgliedern stellten häufig die Väter und Mütter dar. Genauso war es in Mathildes Ursprungsfamilie und dementsprechend hilflos und verängstigt war sie auch nach dem Tod ihres Vaters Friedrich Schey im Jahr 1881. Eine herausragende Rolle spielten in den Familien auch die Frauen. Sie waren es, die zu einem Großteil für den intensiven familiären Austausch und die gesellschaftliche Kontaktpflege verantwortlich waren. Dies geschah in Form von schriftlichen Korrespondenzen, Visiten, den sogenannten Jours, gemeinsamen Sommerfrischen und natürlich bei den von Frauenhand geplanten Abendgesellschaften. Traditionelle Geschlechterrollen, die im bürgerlichen Wertesystem produziert wurden und verankert waren, bestanden freilich auch in Mathildes Familie. Die Analyse ihrer Briefe hat aber gezeigt, dass das Konstrukt der angeblich unterschiedlichen „Geschlechtscharaktere“ ein sehr oberflächliches war. Die Schriftstücke liefern zahlreiche Beispiele dafür, dass das vermeintlich starke Geschlecht nicht nur denkend, rational und tapfer war, sondern auch ganz andere – nämlich vermeintlich weibliche – Wesenszüge aufweisen konnte. Ebenso verhält es sich mit den Frauen, denen nach den Vorstellungen über die Geschlechterrollen im 19. Jahrhundert Selbständigkeit, Strebsamkeit, Aktivität, Kraft und Energie abgesprochen wurden. Aus Mathildes Briefen treten viele Frauen hervor, die durchaus als selbständig und aktiv charakterisiert werden können. Die Analyse von Mathildes Briefen war auch bezüglich der Art und Weise, wie politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen erlebt und bewertet wurden, sehr aufschlussreich. So spielte etwa der anwachsende rassistisch motivierte Antisemitismus in Wien am Ende des 19. Jahrhunderts und bis zum Ersten Weltkrieg zumindest in Mathildes Briefen – vielleicht auch in ihrer Wahrnehmung – keine Rolle. Ganz anders war ihre Reaktion auf den Ersten Weltkrieg, der von ihr als noch nie dagewesene Katastrophe, Menschheitstragödie und als Zivilisationsbruch empfunden wurde. Auch auf die Frage nach jüdischer Identität und der Einstellung zu Religion im Großbürgertum konnten Mathildes Briefe einige Antworten geben. Sehr deutlich wurde, dass das Judentum für sie und die Mitglieder ihrer Gesellschaftsschicht keine allumfassende Lebenswirklichkeit mehr darstellte, sondern zur Konfession geworden war. Großbürgerliche jüdische Familien kehrten nach außen die Verbürgerlichung und ihre Akkulturation bewusst hervor. Dies wird durch das Feiern des Weihnachtsfestes inklusive Weihnachtsbaum deutlich oder durch die demonstrative Ablehnung von Personen oder Praxen, die als offensichtlich orthodox oder traditionell eingestuft wurden. Gleichzeitig bewahrten Familien wie die Scheys oder die Liebens aber auch gewisse jüdische Traditionen, Reste von religiöser Praxis und eine jüdische Identität. Dies wird durch das Zelebrieren der hohen Feiertage im jüdischen Jahreszyklus oder das in die Religion eingebundene Begehen von Lebenszyklusritualen wie Beschneidung, Eheschließung oder Begräbnis deutlich. An vielen Stellen wird deutlich, dass sich die vorliegende Untersuchung an der Schnittstelle zwischen allgemeiner und jüdischer Geschichte befindet und dass sie umfassende und wichtige Erkenntnisse für beide Disziplinen brachte. Sie fügt sich bestens in die in den letzten Jahren entstandenen Forschungen zum jüdischen Bürgertum ein und stellt eine Ergänzung zu Standardwerken wie Marion Kaplans „The Making of the Jewish Middle Class“ (1991) oder Simone Lässigs „Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg“ (2004) dar.
Abstract
(Englisch)
The main concern of this dissertation is research into the everyday life and daily routine of female member of the Jewish upper-class in Vienna. This research is based on about 1000 letters written between 1872 and 1937 by Mathilde Lieben, neé Schey, to her cousin Marie de Rothschild, neé Perugia. Mathilde Lieben’s letters (which include some fairly intimate details) have enabled the author not only to give a very significant description of the specific environment of this social class but also to understand its daily routines and cultural practices. It is important to consider these aspects as they are essential to the academic discourse about Jewish life in Vienna in the last decades of the 19th and the first decades of the 20th century. Whether during infancy, adolescence, married life or her years as a widow, family played a fundamental role in Mathilde’s life. Almost 2/3 of her letters document daily life within her nuclear and extended family, consisting of several generations, and provide some insight into the dominant gender roles and social rules. A distinctive sense of family can be seen as a “brand mark” of the upper-class in general. The bond between individual members of the family usually focused on mothers and fathers. This was also the case in Mathilde’s family and the references in her letters to the death of her father Friedrich Schey in 1881 show how helpless and frightened she felt. In their position as “cultivators” of friendships and relations within family and society, women occupied a leading role in the Jewish society. Written correspondence, visits (so called jours), summer holidays and of course smaller events in the evening (soirées) – were all planned, organised and conducted by women. Traditional gender roles produced by and tied to the “bürgerlich” value system of that time, were certainly also present in Mathilde‘s family. But her letters demonstrate a very superficial construct of the attributes that both sexes were supposedly known for. Several documents prove though that the assumed „stronger sex“ were not only rational and brave thinkers but did also manifest other characteristic traits, namely assumed female ones. It was a common belief in the 19th century that women lacked the capacity for independence, ambition, energy and power but Mathilde’s letters show that women of course could also be absolutely independent and energetic. With respect to the experience and evaluation of political, economical and social changes, the letter’s analysis was also very revealing. It is interesting that the increasing anti-semitism in the Vienna of the late 19th century apparently did not concern Mathilde at all, whereas she was completely devastated at the outbreak of WWI; which she felt was an unprecedented catastrophe, a tragedy for humankind and a crash of civilisation. Other issues which are dealt with include the question of Jewish identity and the role of religion within the Jewish upper-class. It becomes clear that Judaism had become primarily a religious denomination for Mathilde and most members of her social class but that it no longer dominated their daily life. Jewish upper-class families emphasized their bourgeoisification and acculturation in various ways such as celebrating Christmas and having a Christmas tree and sternly refusing to consider carrying out any actions that might be considered too traditional or even too orthodox. At the same time, families like the Scheys or Liebens preserved certain Jewish traditions and elements of religious practice. They continued celebrating the main Jewish holidays as well as continuing to observe certain rituals like circumcision, marriage ceremonies and funerals. This study represents an interface of general and Jewish history and the author has revealed extensive and important information in both disciplines. It contributes to the historical research which has been carried out over the past few years into the Jewish upper-class and can be considered a valuable addition to “The Making of the Jewish Middle Class” by Marion Kaplan (1991) or “Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg” by Simone Lässig (2004).

Schlagwörter

Schlagwörter
(Englisch)
Jewish History Gender Studies Daily Life Private Letters
Schlagwörter
(Deutsch)
Jüdische Geschichte Frauen- und Geschlechtergeschichte Alltagsgeschichte Privatbriefe
Autor*innen
Lisa-Maria Tillian
Haupttitel (Deutsch)
"Tausend Dank für dein Briefl"
Hauptuntertitel (Deutsch)
eine Untersuchung weiblicher Lebenswelten im jüdischen Großbürgertum in Wien zwischen 1872 und 1937 anhand der Briefe von Mathilde Lieben an Marie de Rothschild
Publikationsjahr
2013
Umfangsangabe
V, 247 S. : graph. Darst.
Sprache
Deutsch
Beurteiler*innen
Margarete Grandner ,
Martha Keil
Klassifikationen
15 Geschichte > 15.07 Kulturgeschichte ,
15 Geschichte > 15.96 Geschichte des jüdischen Volkes außerhalb des Staates Israel
AC Nummer
AC11060111
Utheses ID
26442
Studienkennzahl
UA | 092 | 312 | |
Universität Wien, Universitätsbibliothek, 1010 Wien, Universitätsring 1