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Klangliche Konstituierung des Räumlichen
musikwissenschaftliche Raumkonzepte in der Prosa Thomas Bernhards
Olivia Vrabl
Art der Arbeit
Dissertation
Universität
Universität Wien
Fakultät
Philologisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät
Betreuer*in
Irmgard Egger
DOI
10.25365/thesis.30335
URN
urn:nbn:at:at-ubw:1-29980.00421.780053-0
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Abstracts
Abstract
(Deutsch)
Anhand von Landschaften und Schauplätzen komponiert und inszeniert Thomas Bernhard den akustischen Raum in seiner Prosa. Die diesen Klangräumen zugrundeliegenden Muster und deren Bedeutung sind bislang nicht erforscht worden. Ebenso wenig fand die Raumdebatte in der Musik, welche sich im 20. und 21. Jahrhundert durch Musikskulpturen, Klanginstallationen, Klangarchitektur und Klangexperimente artikuliert, Eingang in die Bernhardforschung. Lediglich der Verbindung zwischen dem Werk Thomas Bernhards und der Musik im engeren Sinne wurde Aufmerksamkeit geschenkt. Dennoch, der Stellenwert des Hörens ist in seiner Prosa sehr hoch.
In dieser Arbeit wird der Frage nachgegangen, welche akustischen Räume und Hörwelten in Thomas Bernhards Prosa vorzufinden sind, wie diese konstituiert sind und in welcher Relation sie zu den Figuren in Thomas Bernhards Prosa stehen. Mit der Technik des close readings werden die Prosatexte auf direkte Bezüge zu akustischen Parametern untersucht, um diese akustischen Kodierungen musikwissenschaftlichen Raumstrukturen zuzuordnen. Dabei beschränkt sich die Analyse auf äußere Zeichen, die in Landschaftsbeschreibungen, in der Figurenrede und dem Handlungsverlauf, aber auch in Regieanweisungen und Inszenierungsanweisungen von Drehbüchern in Form von Zuschreibungen und Vergesetzlichungen sichtbar sind.
Als Basis für dieses Forschungsprojekt dient die Einteilung des Raumes in der Musikwissenschaft nach Nina Noeske, die vier Ebenen der Raumanalyse beziehungsweise vier musikbezogene Räume ausfindig macht. Der erste Raum umfasst die räumliche Ausbreitung des Schalls und wird als physikalisch-akustischer Raum bezeichnet. Der zweite Raum behandelt den Vorstellungsraum, der während einer akustischen Wahrnehmung oder während des Komponierens sowie als Raum der Erinnerung entsteht. Diesen Raum bezeichnet Nina Noeske als den imaginären Hörraum. Der dritte Raum wird unter dem Begriff der kompositorischen Praxis subsummiert und beschreibt Räume oder Orte, in denen beziehungsweise an denen tatsächlich Musik ertönt. Der vierte Raum setzt sich mit musikalischen Systemen auseinander. Dieser Raum wird aufgrund seiner umfangreichen Dimension in dieser Arbeit nicht behandelt. Folglich werden die ersten drei Räume nach Nina Noeske unter dem Gesichtspunkt einer literarischen Akustik untersucht.
Raum kann nicht neutral gedacht werden, da die Vorstellungen des Einzelnen sowie die des Kollektivs den Raum prägen. Zudem sind historische Entwicklungen gleichsam wie die akustische Beschaffenheit eines Raumes Teil der Vorstellungen und gestalten das Hörereignis mit. Es ist daher grundsätzlich nicht möglich, den musikalischen Raum ohne imaginäre Anteile und vorurteilsfrei wahrzunehmen. Des Weiteren stehen die drei in dieser Arbeit behandelten Räume in Wechselbeziehung zueinander. Aus diesem Grund wird der musikalische Raum in dieser Arbeit nicht nur nach dem naturwissenschaftlichen Verständnis als Ausbreitung der Schallwellen in einem dreidimensionalen Raum behandelt, sondern auch kulturwissenschaftlich ausgelegt. Das heißt, Raum wird in dieser Arbeit auch als erweiterter, kulturwissenschaftlicher Begriff verstanden, der in vielfältiger Form gestaltet werden kann. Dies bedeutet auch, dass mehrere Räume übereinander gelegt werden und folglich gleichzeitig existieren können.
Die Untersuchung beginnt mit dem physikalisch-akustischen Raum in Thomas Bernhards Prosatexten. Während die Akustik in vielen Räumen Glückssache zu sein scheint, da sich manche akustischen Phänomene erst im Nachhinein zeigen, ist die akustische Qualität in Thomas Bernhards Prosa nicht von Zufall und Glück gekennzeichnet. Die auf den ersten Blick topographisch unauffälligen Landschaften trügen, denn die Akustik wird nicht dem Zufall überlassen. Von der Dauer und Intensität bis hin zur Qualität der Klänge und Geräusche wird im Drehbuch des Bernhardschen Klanguniversums eine präzise Vorlage verfasst, die keinen Spielraum für Interpretationen zulässt. Alle möglichen Informationen werden von den Figuren über die Akustik gesammelt. Diese verwenden die Akustik zur Orientierung und Lokalisierung im Raum. Aber auch die Wächterfunktion des Ohres ist Teil der Handlungen, denn im Bernhardschen Universum entgeht dem außerordentlichen Gehörsinn vieler Figuren nichts. Da viele Figuren Situationen ausgesetzt sind, in denen sie nichts sehen, aber dennoch hören können, ist es der Gehörsinn, der die Geschehnisse weitgehend dokumentiert.
Die Schallausbreitung in Bernhardschen Gebäuden folgt einem spezifischen Muster. Die akustische Beschaffenheit der Oberflächen und deren akustische Durchlässigkeit ist vom ersten Prosawerk Frost bis zum letzten Prosawerk Auslöschung identisch. Raumakustische Muster, derer sich Thomas Bernhard häufig bedient, sind glatte Oberflächen und geschlossene Räume, die nur spärlich mit Mobiliar bestückt sind. Aufgrund der fehlenden porösen Absorber wie Teppiche oder Vorhänge sowie verschlossener Fenster und Türen kommt es zu einer Mehrfachbrechung des Schalls. Der Nachhall wird in der Prosa ebenso von den Figuren thematisiert wie Details darüber, wie die Figuren den Raum hören, in dem sie sich aufhalten. Ein weiteres Charakteristikum neben den glatten Oberflächen und den ausgeräumten Räumen sind dünne Wände, die hellhörig sind.
Die Schallausbreitung im Freien ist im Bernharschen Universum von schallverstärkenden Elementen, etwa Schluchten und Flüsse, die Getöse verursachen, und schalldämpfenden Elementen, wie etwa einem Wald, gekennzeichnet. Auch im Freien steuert Thomas Bernhard die Schallausbreitung und verwendet den Wind, die Temperatur, den Wald oder das Echo für seine Zwecke. Wälder werden dabei grundsätzlich als Schallschutzmauern verwendet, der Wind trägt Informationen heran oder eben nicht. Distanzen werden über die Akustik definiert, so ist etwas in Hör- oder Rufweite und nur selten in Sichtweite. Viele Figuren wissen über die Raumakustik Bescheid und verwenden sie aktiv zu ihren Gunsten. Demzufolge dient das Gehör den Figuren nicht nur zum Schutz und zur Orientierung sondern auch, um die Umwelt zu identifizieren und über das Geschehen Kontrolle auszuüben. Daraus folgt, dass die Raumakustik von Thomas Bernhard in seiner Prosa soweit determiniert ist, als es im Rahmen dieses Mediums möglich ist.
Abgeschirmte Räume und fehlende schalldämpfende Maßnahmen führen dazu, dass die Menschen dem Klang erbarmungslos ausgeliefert sind. Sie entscheiden sich entweder für eine Gefangenschaft im physikalisch-akustischen Raum und ordnen sich den akustischen Gegebenheiten unter, indem sie flüstern oder auf Zehenspitzen gehen, um in den halligen Räumen keine lauten Geräusche zu produzieren. Oder sie versuchen, der klanglichen Übermacht zu entfliehen, in dem sie in klangliche Vorstellungsräume transzendieren. Doch auch diese stellen letztlich ein Gefängnis dar, denn die Erinnerung an Gesprochenes oder Erinnerungen an musikalische Ereignisse verfolgen die leidgeplagten Figuren. Dieser Prozess des Erinnerns macht die Figuren krank, da sie sich nicht freiwillig erinnern, sondern von den Erinnerungen eingeholt werden. Die Figuren hören aber auch während des Hörens Dinge, die sich im imaginären Hörraum verorten lassen. Musikalische Ereignisse wie auch absurde Geräusche erzeugen Vorstellungsräume, die mit der Wirklichkeit kaum oder gar nichts gemein haben und den fehlenden Bezug der Figuren zur Realität deutlich zutage treten lassen. Thomas Bernhards Figuren sind häufig mit einem übernatürlichen Gehör ausgestattet, das die menschliche Hörgrenze und Hörschwelle überschreitet. So ist die Hörfähigkeit mancher Figuren teils oder gänzlich im imaginären Hörraum anzusiedeln. Es sind von der Einbildungskraft gesetzte Räume, gleichsam innere Hörwelten, die auf Illusionen aufbauen und letzten Endes akustische Halluzinationen erzeugen. Ohne Ursprung in der Wirklichkeit stellen diese utopischen Räume die prägnantesten imaginären Hörräume dar. Von Pathologien sind die Figuren etwa gezeichnet, hören Geräusche, obwohl im außen keine Geräusche sind. Perzeptuelles Ergänzen und Ohrwürmer führen dazu, dass die Figuren auch im imaginären Raum von Geräuschen verfolgt und in ihren Pathologien gefangen sind. Die vermeintlichen Zufluchtsorte vor dem physikalisch-akustischen Raum entpuppen sich für die Figuren zu einem weiteren Gefängnis, der Körper wird zur akustischen Hölle.
Die Musik hingegen scheint als positives Element im Zentrum der Prosa Thomas Bernhards zu stehen, ist sie aber nicht. Wie ein Möbelstück gehört sie als Einrichtungsgegenstand in das Bernhardsche Universum. Dem gegenüber ist der Raum in Thomas Bernhards Prosa a priori ein musikalischer Raum, in dem eine kompositorische Praxis exerziert wird, die weit über die Definition von Nina Noeskes Raum der kompositorischen Praxis hinausgeht. Die Menschen sind es, die als Instrumente fungieren, und auf denen gespielt wird. Thomas Bernhard ist auch ein versierter Meister der Geräuschästhetik, denn die ganze Welt ist in seiner Prosa ein Musikinstrument. Das Rattern der Nähmaschine verfolgt einen präzisen Rhythmus, Menschen husten rhythmisch, Türen haben einen Öffnungs- und Schließungsrhythmus, auch der Wind musiziert. Daraus folgt, dass auch Lärm und Geräusch teil des Klangexperiments sind. Raum ist im Bernharschen Universum demnach verräumlichte Musik, in dem das Leben zu einer Opernaufführung wird.
Es ist deutlich erkennbar, wer die wahren Herrscher im Bernhardschen Universum sind: Lautlosigkeit, Stille, Lärm, Ruhe und Unruhe. Während in deutschsprachigen Wörterbüchern das Wesen der Stille als Zustand beschrieben wird, ist im musikwissenschaftlichen Verständnis die Stille als eigene Entität mit Ereignis- und Daseinscharakter dargestellt. Dies trifft auch auf Thomas Bernhards Prosa zu. Darin zeigt sich die Stille als mächtige, handelnde Instanz, die sich nach Bedarf in ihrer Eigenschaft und Intensität verändern kann, um den Raum zu dominieren. Anhand von zwei Achsen wird daher in dieser Dissertation die Stille und deren teils paradoxe Dynamik in ihre Bestandteile zerlegt, um das Ausmaß der Stille darzustellen, ihre Lautlosigkeit wie ihren Lärm, ihre Ruhe und ihre Unruhe, die Verstörung auslöst. Die Stille ist im Bernhardschen Universum ein beobachtbares Phänomen, eine despotische Akteurin, die absolut herrscht. Doch es ist keine spannungsfreie Stille. An vielen Orten im Bernhardschen Universum ist es unangenehm still, es herrscht Lautlosigkeit. Füllen Musik und Geräusche den Raum nicht aus, tritt Stille ein - um dann zu herrschen. In ihrer Ausprägung als Lärm löst die Stille Stress aus. Thomas Bernhard fügt in vielen seiner Prosatexte Reize, Stressoren genannt, hinzu. Da im Bernhardschen Universum viele Figuren den Wunsch äußern, in Ruhe gelassen zu werden, führt dies dazu, dass selbst geringfügige Geräusche als Stressoren eingestuft werden. Die Bernhardschen Figuren zähmen den akustischen Raum und töten etwa Tiere, damit Ruhe einkehrt. Durch das Bekämpfen des Lärms an der Quelle, der primären Lärmschutzmaßnahme, wird der akustische Raum künstlich leiser gemacht und das akustische Kräfteverhältnis verändert. Als zweite Strategie um Stressoren abzuwenden, bauen sich die Figuren akustische Schutzschilder. Dies sind schallabschirmende dicke Mauern, wie das Kalkwerk – ein Bollwerk der Ruhe, oder ein Wald, der Geräusche schluckt. Sofern die Möglichkeit besteht, nützen die Figuren die Flucht und versuchen, durch einen Ortswechsel dem Lärm zu entkommen. Dennoch erklärt die Stille und ihr Lärm nicht das beklemmende Gefühl, welches viele Figuren verspüren. Die zweite Achse beschreibt demzufolge die Ruhe und die Unruhe, die zur Verstörung führt. Die Figuren wollen in Ruhe gelassen werden, doch die äußerliche Ruhe schafft keine innere Ruhe. Sie können sich nicht ruhig halten und sind von permanenter Unruhe und Ruhelosigkeit geplagt. Sie schaffen sich Orte, um Ruhe zu erfahren, doch die Stille wird zum Herrschaftsraum und die vermeintliche Ruhe wird als Illusion entlarvt. Die utopischen Lösungsversuche entpuppen sich dadurch als Falle und die Figuren fallen akustischen und auditiven Abhängigkeiten und Hierarchien zum Opfer. Viele Figuren beherrschen den Mechanismus nicht, um sich innerlich zu beruhigen. Gleichzeitig benötigen viele Figuren Ruhe und Unruhe zugleich, was letzten Endes zur Verstörung führt.
Aus radikal-konstruktivistischer Sicht stellt sich die Frage, wie das Bernhardsche Universum aus der Perspektive der Figuren wahrgenommen wird. Rekurrierend auf philosophischen Grundlagentexten werden deshalb die musikwissenschaftlichen Räume in philosophische Raumkonzepte eingebettet. Die Figuren in Thomas Bernhards Prosa beschreiben ihre Außenwelt ausgehend von ihrem Bewusstsein. Sie projizieren akustische Erinnerungs- und Vorstellungsräume hinaus, die den realen Raum überblenden. Im Sinne der Subjektphilosophie Johann Gottlieb Fichtes finden sich deshalb von der Einbildungskraft gesetzte poetisierte Klangräume. Die Beschreibungen der Figuren heben sich deutlich von einer objektiven Beschreibung ab und die Figuren sind ihren selbstgesetzten Bezugssystemen ausgeliefert. Es sind keine Raumbeschreibungen die der Leserschaft nähergebracht werden, sondern verzerrte Beschreibungen der Raumwahrnehmung, projiziert durch die Einbildungskraft der verstörten Figuren. Je nachdem, wie sich die Figuren die Räume zurechtkonstituieren, hören und erleben sie ihr klangliches Ich-Gebäude.
Geräusche, Lärm, Stille und Klänge erzeugen im Bernhardschen Universum Heterotopien nach Michel Foucault. Viele akustisch motivierte Heterotopien sind dadurch gekennzeichnet, dass sie Inseln der Ruhe erzeugen sollen. Während sich die Figuren vor der Außenwelt abschotten und der Ansicht sind, anhand der Heterotopie in einen Raum der Ruhe eingetreten zu sein, stellen sie fest, dass sie einer Illusion aufgesessen sind, denn sie finden in der Heterotopie keine Ruhe sondern Unruhe vor. Um ihre Wunschvorstellungen Wirklichkeit werden zu lassen, wandeln sie Alltagshandlungen für ihre Bedürfnisse ab. Diese Praktiken im Raum nach dem Konzept von Michel de Certeau verfolgen den Zweck, den akustischen Raum leiser zu machen und ihn akustisch zu dominieren. Die Praktiken, die Auswirkungen auf die Akustik haben, markieren akustische Territorien. Das Ziel, absolute Stille zu erzeugen, führt allerdings unweigerlich zur Leblosigkeit. Und je leiser der Raum von den Figuren empfunden wird, desto starrer sind sie, denn die Praktik, den Raum verstummen zu lassen, produziert einen unbeweglichen perspektivenlosen Raum.
Die Stille ist in Thomas Bernhards Prosa auch Projektionsfläche für Tatsachen und Handlungen. Aus diesem Grund wird in dieser Arbeit die Beziehung zwischen dem Menschen und seiner akustischen Umwelt ins Zentrum der Analyse gerückt. Durch den Klang, den Thomas Bernhard mittels seiner Schauplätze und Gegenden komponiert, inszeniert er den akustischen Raum und verschafft den Orten dadurch akustische Identitäten, die sich wie ein Muster durch seine Prosa ziehen. Anhand von Modellen der akustischen Ökologie und der Klanglandschaftsforschung ist es möglich, ein akustisches Profil der Gemeinschaften in Thomas Bernhards Prosa zu erstellen. Die Akustik spielt eine zentrale Rolle bei der Beurteilung eines Ortes und dessen Erscheinungsbild, denn Orte besitzen charakteristische Klangbilder. Menschen nehmen die akustische Umwelt als musikalische Komposition wahr und sind, da sie die Komposition größtenteils mitgestalten, verantwortlich für diese Komposition. Doch um viele Facetten des akustischen Raumes überhaupt erst begreifbar machen zu können, bedarf es, in differenzierte Arten des Hörens vorzudringen. Zudem ist das Hören eng mit der Bewegung im Raum verbunden. In der akustischen Ökologie wird daher zwischen dem Hörspaziergang (listening walk) und dem Klangspaziergang (soundwalk) unterschieden. Wie in der akustischen Ökologie wird in Thomas Bernhards Prosa die Leserschaft eingeladen, an Klangspaziergängen teilzunehmen. Geschickt führt er die Leserschaft auf einen akustisch schmackhaften Weg und fordert uns auf, ausgewählten Geräuschen und Klängen zu lauschen. Die Figuren selbst bewegen sich in beiden Dimensionen. Einerseits nehmen sie an Hörspaziergängen teil, andererseits aber auch an Klangspaziergängen, indem sie die Umwelt zur Klangerzeugung aktiv miteinschließen. Viele Figuren im Bernhardschen Universum besitzen nicht nur ein sensibles Gehör, sondern pflegen einen wachsamen und reflektierten Umgang mit der akustischen Welt, die sie umgibt.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Figuren keinen Landschaftsklang wahrnehmen, sondern Klanglandschaften hören. Unter Klanglandschaft versteht man das Zusammenspiel aller Schallereignisse, aus denen ein Ort oder ein Raum besteht. Diese Geräuschkulisse wird allerdings auch einer ästhetischen Beurteilung unterzogen und basiert zudem auf Wertungen, Erinnerungen und Aussagen von Menschen. Klanglandschaften können deshalb nicht rein naturwissenschaftlich eingeordnet werden, da auch Erinnerungslandschaften und Gefühlslandschaften teil einer Klanglandschaft sind. Viele Figuren gestalten den akustischen Raum nach ihren Vorstellungen und tappen in die Falle, die Rechnung ohne die Klanglandschaft zu machen. Neben der persönlichen Komponente eines jeden Individuums artikulieren sich Klanglandschaften auch in der gesamten Gesellschaft. Die Stimmung in der Bevölkerung weist einen direkten Bezug zum sozialpolitischen Zustand eines Staates auf. Dass die von der Bevölkerung wahrgenommene Klanglandschaft und die Machenschaften des Staates korrelieren, ist in Thomas Bernhards Universum nicht zu überhören. Wie ein Mantra wiederholt der Autor diese Botschaft und lädt die Leserschaft ein, einen Bezug zwischen dem Klangraum und der dazugehörigen Gesellschaft herzustellen. Aufgrund dessen stellt sich die Frage, inwieweit Thomas Bernhard durch sein Akustikdesign einen Spiegel der Gesellschaft darstellt. Diese soziale Akustik ist aber auch ein Indiz für den Zustand der Gesellschaft, in der sich die Figuren befinden. Denn von Frost bis Auslöschung, vom ersten bis zum letzten großen Prosawerk, sendet uns Thomas Bernhard immer die gleiche Botschaft: wir sollen zuhören, denn Klanglandschaften sind eine Art von Sprache, derer sich der Akustikdesigner Thomas Bernhard bedient, um Sachverhalte auszudrücken. Wenngleich sich die Mehrheit der Figuren weigert, zuzuhören, ist diese Weigerung letztlich die Konsequenz davon, dass sie nicht die Kraft dazu haben, wie im Zitat ausgedrückt, welches dieser Arbeit vorangestellt ist. Doch die Botschaft richtet sich nicht nur an die Figuren, sondern auch an die Leserschaft, denn das Hören wird in Thomas Bernhards Prosa für alle zum Differenzierungsgeschehen. Wer die Kraft hat, aufmerksam zuzuhören, dem offenbart sich die Gesellschaftskritik, die Thomas Bernhard durch den Klang vermittelt. Denn über die klangliche Konstituierung des Raumes werden soziale Strukturen sichtbar, da das Bernhardsche Universum auf die Figuren zu rhythmisiert ist. So hat letzten Endes jede Gesellschaft die Klangumgebung, die sie verdient. Diejenigen, die Thomas Bernhards Aufforderung folgen und zuhören, offenbart sich die soziale Botschaft, die der Autor durch den Klang vermittelt. Sein Werk ist allerdings nicht nur eine Einladung zu hören, sondern eine Aufforderung, sich Tatsachen nicht bequem zurechtzuhören.
Abstract
(Englisch)
Thomas Bernhard cultivated the reputation of being a “musical author“ but his musicality has never been explained in a satisfactory way. This project deals with the sonic constitution of space based on Nina Noeske’s categories of space in music, the physical-acoustic space, space created by imagination and space created while composing a piece of music.
Thomas Bernhard designs the acoustic room in his prose in every detail. The rooms described in his prose are characterized by smooth surfaces and missing absorbers. Reverberant sound is the consequence of these acoustic conditions and the characters subject themselves to the acoustic environment. Thus, the acoustic conditions in the rooms dominate many characters. Furthermore, the clairaudient walls force many characters to be exposed to sound and noise without a choice and without any chance to escape. Using sound-amplifying elements, such as a canyon, as well as sound absorbing elements, such as a forest, Thomas Bernhard composes the landscape creating either absolute silence or loud noise. Most characters in his prose seek silence and peace but the places and rooms they create offer only the opposite. They try to escape in imaginary places but they are haunted by voices and sounds from the past and the present. Or, they suffer from acoustic hallucinations that madden them. Thus, the plan to flee from the room acoustic terror into imaginary places fails as well. Consequently, there is no silence in space or in the body. Furthermore, many characters lack the mechanism to find inner peace. The reason is that the characters tailor the world according to their subjective point of view, which can be explained by the philosophy of Johann Gottlieb Fichte, and produce acoustic nightmares. However, the main focus of the characters lies on silencing their environment. They create heterotopoi according to Michel Foucault in order to mark their acoustic territories but they fall prey to illusions, as the heterotopoi cannot offer them what they need. Based on Michel de Certeau’s concept of daily habits and methods in space the characters change their behaviour and daily routines in order to change the acoustic environment.
Whereas music in a narrow sense plays a minor role in his prose, Thomas Bernhard’s universe is a musical universe from the outset. He describes life as an opera and the whole world as a stage in which human bodies serve as instruments, doors and windows have their rhythms and the wind plays music. But this world is under the rule of silence in all its manifold ways. Thus, silence is not a condition but a phenomenon that can change its features in order to dominate space. Like a mantra Thomas Bernhard’s main characters repeat the message to listen to the environment, but most characters refuse to listen or do not dare to listen at all. Those who decide to face the challenge are confronted with powerful soundscapes. A soundscape is a kind of language humans have and can be described as a social acoustics in Thomas Bernhard’s prose. Thus, the condition of a state and the way it is ruled by the authorities can be expressed in soundscapes. And this is what many characters hear, a rotten and corrupt establishment. However, human beings are responsible for their soundscapes as they create the acoustic environment that surrounds them. Thus, Thomas Bernhard invites the readers not only to listen to the soundscapes but criticises the fact that many people listen to their environment in a way that makes them blind to what is happening around them.
Schlagwörter
Schlagwörter
(Englisch)
Thomas Bernhard space acoustics
Schlagwörter
(Deutsch)
Thomas Bernhard Raum Akustik
Autor*innen
Olivia Vrabl
Haupttitel (Deutsch)
Klangliche Konstituierung des Räumlichen
Hauptuntertitel (Deutsch)
musikwissenschaftliche Raumkonzepte in der Prosa Thomas Bernhards
Paralleltitel (Englisch)
Sonic constitution of space ; musical conceptions of space in the prose of Thomas Bernhard
Publikationsjahr
2013
Umfangsangabe
218 S. : graph. Darst.
Sprache
Deutsch
Beurteiler*innen
Irmgard Egger ,
Frederico Celestini
Klassifikationen
17 Sprach- und Literaturwissenschaft > 17.81 Epik, Prosa ,
17 Sprach- und Literaturwissenschaft > 17.97 Texte eines einzelnen Autors
AC Nummer
AC11135062
Utheses ID
27042
Studienkennzahl
UA | 092 | 332 | |