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So elend und so treu
die Konstruktion und Funktion eines Zigeunerstereotyps und dessen Erscheinungsbild in der Wiener Operette (1775-1939) im soziologischen Kontext der Entstehung stereotyper Fremdbilder
Jan Christoph Jonas Liefhold
Art der Arbeit
Diplomarbeit
Universität
Universität Wien
Fakultät
Philologisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät
Betreuer*in
Isolde Schmid-Reiter
DOI
10.25365/thesis.32390
URN
urn:nbn:at:at-ubw:1-29704.52570.804659-0
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(Print-Exemplar eventuell in Bibliothek verfügbar)
Abstracts
Abstract
(Deutsch)
Mit dem Auftauchen der Romgruppen im europäischen Raum, das ab dem 15. Jahrhundert historisch belegt ist, beginnt auch die sukzessive Marginalisierung und Stereotypisierung der Minderheit und deren Verortung als dezidiert negativ konnotierte Außenseiter. Die europäische Mehrheitsgesellschaft, welche im Zuge der Territorialisierung in der Frühen Neuzeit ihre Städte befestigt und den urbanen Raum ständisch aufgegliedert hatte, wehrte sich gegen die Integration der fremden Romvölker, welche sie als unheimlich und verachtenswert empfand. Gleichzeitig begann mit der Ausgrenzung der Minorität parallel auch die Konstruktion eines Zigeunerstereotyps in der europäischen Mehrheitsgesellschaft, eines stereotypen Fremdbildes über die einwandernden fremden Gruppen. Die Stereotype, mit denen die real existierenden Romvölker überlagert wurden, reichten vom notorischen Hang zu Kriminalität über Fähigkeiten im Bereich der schwarzen Magie bis hin zur ausgelebten Religionslosigkeit und Blasphemie. Unter dem Begriff „Zigeuner“, dem kein ethymologisch belegbarer Ursprung nachgewiesen werden kann und der schon aufgrund dessen jeden Bezugsrahmen entbehrt, wurde seit der Frühen Neuzeit ein Konglomerat an stereotypen Fremdbildern zusammengefasst, welche jedoch keine, oder nur sehr bedingt, Entsprechung in der Realität finden.
Mit der wissenschaftlichen Neuorientierung während der Aufklärung wurde verstärkt versucht, das Zigeunerstereotyp auf einen Rassebegriff zu übertragen und die stereotypen Fremdbilder nun vielmehr ethnisch-biologisch herzuleiten.
Im 19. Jahrhundert entstand aus dem bis dahin mehrfach transformierten Zigeunerstereotyp die sogenannte „Zigeunerromantik“, welche sich in Kunst, Musik und Literatur in Form einer stilisierten Verherrlichung des „Zigeunerlebens“ manifestierte. Die Romantik und der mit ihr einhergehende Eskapismus des 19. Jahrhunderts rückte vor allem die angebliche Freiheit und Unabhängigkeit der „Zigeuner“ in den Fokus des Interesses.
Die Wiener Operette, die als Nachfolgerin der Pariser Operette der Offenbach-Ära ab etwa 1860 in Wien entstand, rezipierte zunächst vor allem dieses stilisierte Bild der Zigeunerromantik verstärkt in ihren Werken. Die „Zigeuner“ wurden jedoch auch in den Operetten nicht realitätsgetreu abgebildet, es wurden auch hier ausschließlich Stereotype über die Marginalgruppe konstruiert, die einen ebenso romantisierenden wie auch diffamierenden, in jedem Fall aber realitätsfernen Charakter aufweisen. Dieses Zigeunerstereotyp in der Wiener Operette wurde funktionalisiert, um dem stets sehr öffentlichkeitsnahen Genre der Operette einen im Zuge der Exotismus-Strömungen im 19. Jahrhundert attraktiven Anstrich zu verleihen, eine Couleur locale, die ebenso dazu dienen konnte, die österreichische Mehrheitsgesellschaft vor der Folie der freien, lustigen und unabhängigen „Zigeuner“ kritisch zu beleuchten. Die Operette entstand unter anderem aus einem gesellschafts- und sozialkritischen Geist heraus, und unter diesen Prämissen wurden in der frühen Phase auch die Zigeuner auf der Bühne funktionalisiert. Mit einem Wandel in der Publikumsstruktur im Fin de siècle änderten sich auch die Parameter für die Konstruktion und Funktion des Zigeunerstereotyps in der Wiener Operette.
Als die Operette immer mehr zum Massenkulturphänomen des mittelständischen Bürgertums wurde und die hochliberalen intellektuellen AdressatInnen nicht mehr ausschließlich RezipientInnen der Operettenindustrie waren, sah sich die volksnahe Kunstform dazu angehalten, sich den Anforderungen und Wünschen des neu formierten Publikums anzupassen und ihre Stoffe sowie etwaige Stereotype auf der Bühne neu einzusetzen. Der „Zigeuner“ wurde, samt der ihm zugeschriebenen „Zigeunermusik“ immer mehr zur atmosphärischen Dekoration, zum Stilmittel des „Differierenden“ und zum Lokalkolorit der letzten Tage der Habsburgmonarchie.
Nach deren Niedergang am Ende des Ersten Weltkriegs gab es abermals einen Umschwung im Umgang mit dem Zigeunerstereotyp in der Wiener Operette. Wiederum den Anforderungen des (mittlerweile) nachkriegsdepressiven Publikums Folge leistend, verschwand die Figur des „Zigeuners“ als Person der Handlung zunehmend aus der modernen Wiener Operette nach 1918. Was vom Zigeunerstereotyp auf der Bühne übrigblieb, waren nun vielmehr ausschließlich zu Zwecken der Couleur local zitierte „Zigeunerbilder“ und musikalisch stilbildende, „zigeunerisch“ klingende Motive und Rhythmen. Es passierte zunehmend eine Gleichsetzung des „Zigeunerischen“ mit dem „Ungarischen“, und damit war das Zigeunerstereotyp zweckdienlich, um eine Reminiszenz an die mit dem Vertrag von St. Germain verlorene Reichsteile zu ermöglichen.
Was jedoch den Operetten durch die gesamte Entwicklung hinweg gemein blieb, ist ein stereotypes Fremdbild über eine Marginalgruppe, das zu jeder Zeit einer realen Entsprechung entbehrte. Seit dem Auftauchen der Romgruppen im europäischen Raum wurden diese von der Mehrheitsgesellschaft stigmatisiert, stereotypisiert und funktionalisiert. Diese Zigeunerstereotype tradierten sich auch durch die Werke der Wiener Operette, in welche sie in Musik und Libretto einflossen, und tun dies bis heute. Die moderne Aufführungspraxis lässt erstaunlicherweise zu häufig eine Auseinandersetzung mit den diskriminierenden Stereotypen außer Acht, welche in der Wiener Operette verhandelt werden und welche aus heutiger Sicht als Rassismen gewertet werden müssen. Das Bewusstsein dafür, das Stereotype sich der sozialpsychologischen Forschung auch unbewusst in der Wahrnehmung der Rezipienten verfestigen können, muss Anlass dafür sein, in der Aufführugspraxis über die Zigeunerstereotype in der Wiener Operette zu reflektieren und mit einem sensiblen Bewusstsein für stereotype Fremdbilder und Rassismen mit den Werken zu verfahren, um vorzubeugen, dass das diskriminierende Zigeunerstereotyp, das in der europäischen Mehrheitsgesellschaft seit dem 15. Jahrhundert virulent ist, in der Kunstform Operette weiterhin tradiert wird.
Abstract
(Englisch)
Dating back to the 15th century, the appearance of Romani people in Europe was accompanied from the start by a constant marginalization and stereotyping of this ethnical group. The European majority had stabilized their urban living space in the early modern period and consequently excluded and alienated the minority, thus determining their position as outcasts. The origin of the distinct stereotyping can perhaps be seen in the word “gypsy” that was used to describe the Romani people and has lasted until today in the cultural and societal repertoire.
Distinctly negative at first, these stereotypes transformed into a romantic view within the 19th century as symbols of “freedom” and “independence”, as well as “passion”, “colorfulness” and “musicality”.
In the romantic period, operetta emerged as an autonomous art starting in France and became a most popular genre in central Europe. In Vienna, a special type of the genre, the “Viennese operetta”, rose to a highly demanded form of musical theatre. In the operettas written and composed between 1885 and 1938, the “gypsies” played a particular role: they were often part of the synopsis, the music was composed to sound especially “gypsy-like” and the topics were influenced by the stereotypes that defined their specific position in the European society. The structure and function of interlacing “gypsy-stereotypes” in librettos and scores of Viennese operettas are, from a modern point of view, racist discriminations against an ethnical minority and dangerously persuasive for the audience of musical theatre if not handled or received in a reflective way.
The analysis of the structure and function of “gypsy-stereotypes” in the Viennese operetta was the central issue of this thesis. The research showed that in fact the appearance of “gypsies” on stage as well as introducing so-called “gypsy-music” to accompany a scene or indications of “gypsy-related” topics in the plot always led to some presentation of a stereotype disconnected from the reality of this minority.
Schlagwörter
Schlagwörter
(Englisch)
Gypsystereotype Operetta Vienna stereotype Gypsymusic romani people Strauß Lehár Kálmán Racism
Schlagwörter
(Deutsch)
Zigeunerstereotyp Operette Wien Stereotyp Zigeunermusik Sinti und Roma Strauß Lehár Kálmán Rassismus
Autor*innen
Jan Christoph Jonas Liefhold
Haupttitel (Deutsch)
So elend und so treu
Hauptuntertitel (Deutsch)
die Konstruktion und Funktion eines Zigeunerstereotyps und dessen Erscheinungsbild in der Wiener Operette (1775-1939) im soziologischen Kontext der Entstehung stereotyper Fremdbilder
Publikationsjahr
2014
Umfangsangabe
262 S. : Ill.
Sprache
Deutsch
Beurteiler*in
Isolde Schmid-Reiter
Klassifikationen
17 Sprach- und Literaturwissenschaft > 17.80 Literarische Gattungen: Allgemeines ,
17 Sprach- und Literaturwissenschaft > 17.90 Literatur in Beziehung zu anderen Bereichen von Wissenschaft und Kultur ,
17 Sprach- und Literaturwissenschaft > 17.93 Literarische Stoffe, literarische Motive, literarische Themen ,
17 Sprach- und Literaturwissenschaft > 17.97 Texte eines einzelnen Autors ,
24 Theater > 24.00 Theater, Film, Musik: Allgemeines ,
24 Theater > 24.08 Theatersoziologie, Theaterpsychologie ,
24 Theater > 24.40 Musik: Allgemeines ,
24 Theater > 24.45 Musiksoziologie ,
24 Theater > 24.55 Komponisten, Musiker, Sänger ,
24 Theater > 24.60 Musikformen, Musikgattungen: Allgemeines ,
24 Theater > 24.62 Musiktheater, Theatermusik ,
71 Soziologie > 71.11 Gesellschaft ,
71 Soziologie > 71.30 Soziale Gruppen: Allgemeines ,
71 Soziologie > 71.50 Kultursoziologie: Allgemeines ,
71 Soziologie > 71.60 Soziale Fragen, soziale Konflikte: Allgemeines ,
71 Soziologie > 71.61 Diskriminierung
AC Nummer
AC11624366
Utheses ID
28777
Studienkennzahl
UA | 317 | | |