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Theater im internationalen Kontext
ein Vergleich zwischen dem aristotelischen, dem Stanislawski'schen, dem Brecht'schen epischen Theater und dem traditionellen chinesischen Theater
Jiefei Li
Art der Arbeit
Dissertation
Universität
Universität Wien
Fakultät
Philologisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät
Betreuer*innen
Michael Rohrwasser ,
Susanne Weigelin-Schwiedrzik
DOI
10.25365/thesis.3803
URN
urn:nbn:at:at-ubw:1-29718.68675.983470-3
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(Print-Exemplar eventuell in Bibliothek verfügbar)
Abstracts
Abstract
(Deutsch)
In dieser Dissertation wird der Versuch unternommen, einen Vergleich zwischen vier Theaterformen - dem aristotelischen Theater, dem Brecht'schen epischen Theater, dem Stanislawski'schen Theater und dem traditionellen chinesischen Theater - zu ziehen und das Verhältnis zwischen ihnen darzustellen. In die Problematisierung der Übersetzung "Peking-Oper" für den chinesischen Begriff "Jingju" ist auch eine Darstellung dieser chinesischen Theatertradition integriert. Die Analyse einer Gegenüberstellung des Brecht'schen Verfremdungseffektes und der chinesischen Schauspielkunst erbringt den Nachweis, dass Brechts Interpretation des traditionellen chinesischen Theaters auf einem Missverständnis - allerdings nicht auf generell kulturellen (wie es in der bisherigen Forschungsliteratur bezeichnet wird), sondern auf individuellen Verständnisunterschieden - beruht, das heißt, nichtchinesische Zuschauer müssen nicht unbedingt nur auf Grund des Kulturunterschiedes die spezifische Wahrnehmung Brechts teilen, nicht jeder Zuschauer verkennt die im chinesischen Theater dargestellten Emotionen, nämlich den Ausbruch des Affektiven, so wie Brecht es tat. Dass Brecht die Darstellungstechnik von Jingju (einer der traditionellen chinesischen Theateruntergattungen) aus seiner subjektiven Wahrnehmung heraus mit viel Gewinn studiert und sie auch fruchtbar für seine Theaterpraxis angewendet hat, ist ebenfalls ein Schwerpunkt dieser Arbeit. Basierend auf der Erkenntnis, dass eine auf Einfühlung abzielende Dramatik nach Brechts Definition eine aristotelische Dramatik ist, können das traditionelle chinesische Theater und das Stanislawski'sche Theater auf Grund der von ihnen verlangten Einfühlungstechnik des Schauspielers in seine darzustellende Figur und der Einladung an den Zuschauer zur Identifikation mit der dargestellten Person zur aristotelischen Dramatik gerechnet werden. Die Vergleichbarkeit des Stanislawski'schen Theaters mit dem traditionellen chinesischen Theater lässt sich außer bei der oben genannten Einfühlung und Identifikation auch an Hand der Theorie "der vierten Wand" nachweisen. Dadurch wird der Mythos der in der chinesischen Theaterwissenschaft so bedeutsamen "drei großen Theatersysteme der Welt", der höchst wahrscheinlich auf Huang Zuolins Gegenüberstellung von "Glauben an die 'vierte Wand'" bei Stanislawski, "Beseitigung der 'vierten Wand'" bei Brecht und "Nichtexistenz der 'vierten Wand'" bei Mei Lanfang zurückgeht, hinfällig. Die zwei in vielerlei Hinsicht ganz verschiedenartigen Theaterformen - Brechts episches Theater und Jingju in der Aufführungspraxis von Mei Lanfang - treffen jedoch letztendlich bei einem gemeinsamen Ziel zusammen, nämlich bei dem Anliegen, emotional ausgelöste Kritik des Zuschauers zu erregen: Brecht erreicht dies beim europäischen Publikum durch Maßnahmen des Verfremdungseffektes, Jingju bei den chinesischen Zuschauern durch die Identifikation des Publikums mit dem Bühnengeschehen, welche auf der Basis von homogener Mentalität und Tradition zustande kommt und durch eine sehr stilisierte, auf das Wesentliche reduzierte Aufführungspraxis, die sowohl in der Darstellung als auch in den Requisiten zu beobachten ist, welche das chinesische Publikum ansprach und anspricht. Allerdings muss hier hervorgehoben werden, dass Mei Lanfang seine Aufführungspraxis unter bestimmten historischen Bedingungen entwickelte, die für Jingju der späten Kaiserzeit nicht gilt. In Bezug auf diesen Effekt, emotional ausgelöste Kritik des Zuschauers zu erregen, gibt es bis zu einem gewissen Grad Übereinstimmung zwischen dem Stanislawski'schen Theater (obwohl dies nie Stanislawskis Absicht war, sondern aus dem Publikum unwillkürlich hervorging), dem epischen Theater Brechts und Jingju (besonders bei Mei Lanfang). Dieses Faktum hat selbstverständlich mit dem jeweiligen politischen Hintergrund dieser drei Länder zu tun: Deutschland war von den beiden Weltkriegen und dem Nationalsozialismus gezeichnet, im späten zaristischen Russland entwickelten sich die Arbeiterbewegungen, bis schließlich die Bolschewiki siegten und die Herrschaft übernahmen (Oktoberrevolution von 1917), China befand sich in der Zeit nach der Xinhai-Revolution von 1911. Zwischen den vier miteinander zu vergleichenden Theaterformen - dem aristotelischen Theater, dem Brecht'schen epischen Theater, dem Stanislawski'schen Theater und dem traditionellen chinesischen Theater - kann jedoch überraschenderweise eine verbindende Gemeinsamkeit erschlossen werden, wobei das gefundene Gemeinsame beim aristotelischen Theater auf ein Theater im Sinne Lessings, also der Epoche der Aufklärung beschränkt ist: nämlich die Belehrung des Publikums als eine grundlegende Aufgabe der jeweiligen Theaterform.
Abstract
(Englisch)
This thesis represents the attempt to make a comparison between four forms of theatre - the Aristotelian theatre, Brecht's epic theatre, Stanislavsky's theatre, and the traditional Chinese theatre - and to examine their relationship. The discussion of the problematic nature of the translation of the Chinese expression "Jingju" into "Peking Opera" also contains a description of this Chinese theatre tradition. The analysis of the comparison of Brecht's Verfremdungseffekt (alienation effect) with the Chinese dramatic art proves that Brecht's interpretation of the traditional Chinese theatre was due to a misunderstanding, however, not a general cultural misinterpretation (as it has been described up to now in the existing scientific research) but an individual different understanding, which means that non-Chinese spectators may share Brecht's specific perception not only and necessarily because of the cultural difference, and not every spectator misreads emotions as they are shown in the Chinese theatre, that is the outburst of affections, like Brecht did. This thesis also emphasizes the fact that Brecht benefited from his personal studies of the performing techniques of Jingju (one of the traditional Chinese theatre sub-genres) and successfully used them for his own theatrical practice. According to Brecht, drama that aims towards a sympathetic understanding is considered an Aristotelian drama. Based on this cognition, both the traditional Chinese theatre and Stanislavsky's theatre can be regarded as belonging to the Aristotelian drama, due to the required actor's technique to create sympathetic understanding and the invitation to the audience to identify with the character that is personated. Sympathetic understanding and identification are not the only comparable traits between Stanislavsky's theatre and the traditional Chinese theatre. Another similarity can be proved with the theory of "the fourth wall", thus disposing of the myth of the so-called "the Three Great World Theatrical Systems" that is so relevant for Chinese dramatics. The myth can probably be traced back to Huang Zuolin's comparison of Stanislavsky's "believe in the 'fourth wall'", Brecht's "elimination of the 'fourth wall'", and Mei Lanfang's "non-existence of the 'fourth wall'". Brecht's epic theatre and Jingju according to Mei Lanfang's performance practice differ in many aspects. However, both forms of theatre join in a common goal, that is their intention to inspire emotionally induced critique of the spectator: Brecht achieves this goal with the European audience by applying measures of the Verfremdungseffekt; Jingju by making the Chinese audience identify itself with the happenings on stage based on a homogeneous mentality and tradition combined with a performing practice that is reduced to the essentials in performance and stage properties that has been and still is appreciated by the Chinese audience. One has to stress, however, that Mei Lanfang developed his performance practice under certain historical conditions which did not apply to Jingju of the late empire. Referring to its effect of emotionally induced critique of the spectator, there is a certain degree of concurrence of Stanislavsky's theatre (although this never was Stanislavsky's intention but a result of the audience's reaction) with Brecht's epic theatre and Jingju (especially Mei Lanfang's). Of course, this fact is related to the respective political background of these three countries: Germany was bearing the marks of the two World Wars and National Socialism; during the late tsarist period in Russia labour movements evolved until finally the Bolshevists took over (October revolution in 1917); in China the Xinhai revolution had occurred in 1911. Among the four forms of theatre in comparison - the Aristotelian theatre, Brecht's epic theatre, Stanislavsky's theatre, and the traditional Chinese theatre - surprisingly, there is one common trait, although concerning the Aristotelian theatre it is restricted to Lessing's meaning of theatre and thus to the era of Enlightenment: the fundamental responsibility of the respective forms of theatre is to educate the audience.
Schlagwörter
Schlagwörter
(Englisch)
Brecht Stanislavsky Mei Lanfang Epic Theatre Peking Opera Jingju alienation effect traditional Chinese theatre dramatic art theatre in the 20th century
Schlagwörter
(Deutsch)
Brecht Stanislawski Mei Lanfang episches Theater Peking-Oper Jingju Verfremdungseffekt traditionelles chinesisches Theater Schauspielkunst Theater im 20. Jh
Autor*innen
Jiefei Li
Haupttitel (Deutsch)
Theater im internationalen Kontext
Hauptuntertitel (Deutsch)
ein Vergleich zwischen dem aristotelischen, dem Stanislawski'schen, dem Brecht'schen epischen Theater und dem traditionellen chinesischen Theater
Paralleltitel (Englisch)
Theatre in an international context ; a comparison between the Aristotelian theatre, Stanislavsky's theatre, Brecht's epic theatre, and the traditional Chinese theatre
Publikationsjahr
2009
Umfangsangabe
223 S. : graph. Darst.
Sprache
Deutsch
Beurteiler*innen
Michael Rohrwasser ,
Susanne Weigelin-Schwiedrzik
AC Nummer
AC05040775
Utheses ID
3349
Studienkennzahl
UA | 092 | 332 | |