Detailansicht
Das Panorama als visuelles Wahrnehmungsmuster und Text organisierendes Element in der Literatur des 19. Jahrhunderts
Bettina Scheidl
Art der Arbeit
Masterarbeit
Universität
Universität Wien
Fakultät
Philologisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät
Studiumsbezeichnung bzw. Universitätlehrgang (ULG)
Masterstudium Deutsche Philologie
Betreuer*in
Annegret Pelz
DOI
10.25365/thesis.40248
URN
urn:nbn:at:at-ubw:1-29753.82656.435763-0
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(Print-Exemplar eventuell in Bibliothek verfügbar)
Abstracts
Abstract
(Deutsch)
Die vorliegende Masterarbeit setzt sich mit dem Einfluss des Panoramas als erstes Massenmedium der Moderne auf die zeitgenössische Literatur des 19. Jahrhunderts auseinander. Dem Publikum der europäischen Großstädte ist es ab 1800 möglich, in Panoramen – gebauten optisch-technischen Kunstformen, die möglichst detailgetreu und realistisch gefertigte Rundbilder im Stil der „Trompe-d’oeil-Malerei“ präsentierten – Szenerien von erhöhten Plattformen im Mittelpunkt der Rundbauten im uneingeschränktem „Rundumblick“ von 360 Grad zu betrachten. Diese Form der Ansicht gestattet bis zu 150 BesucherInnen gleichzeitig, einzelne Bilddetails frei zu fokussieren und wieder zurück in die Gesamtansicht zu gliedern. Bei der Rezeption des Rundbildes wird dem Individuum eine entscheidende Rolle zuteil, da das Bildsujet von den BesucherInnen durch die Verknüpfung individuell ausgewählter Einzelbeobachtungen zu einer Gesamtansicht auf jeweils subjektive Weise erschlossen wird.
Das Panorama bricht so zum einen mit Wahrnehmungsprinzipien früherer Medien wie der ausgeprägten Rahmenschau im Guckkasten, der das darin präsentierte Kunstwerk durch ein vorgegebenes Guckloch nur ausschnitthaft zur Schau stellte. Zum anderen etabliert das Panorama als Massenmedium erstmals einen öffentlichen und demokratischen Zugang zu Werken der bildenden Kunst, wodurch deren Rezeption nicht mehr nur einer ausgewählten Gesellschaftsschicht vorbehalten war.
Die Sehform des „panoramatischen Blicks“ erlangt als spezifische Blickform in literarischen Texten des 19. Jahrhunderts maßgeblich Bedeutung: In den Erzählungen „Des Vetters Eckfenster“ von E. T. A. Hoffmann und „Aussichtung und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephansthurmes“ von Adalbert Stifter erweist sich der „panoramatische Blick“ als umfassender „Rundumblick“ über einen belebten Marktplatz beziehungsweise über die räumlichen Strukturen Wiens. Der „panoramatische Blick“ offenbart sich vom Eckfenster einer empor gelegenen Wohnung sowie von der Spitze des „St. Stephansthurmes“ . In beiden Fällen genießen die Protagonisten sowohl den freien Rundumblick über die Stadt als auch die fokussierte Detailansicht auf einzelne Ereignisse oder Bewohner inmitten des regen Treibens.
Darüber hinaus lassen sich die Strukturen des Panoramas in der Literatur der Moderne als Text organisierendes Element erkennen, wie die Analyse von Karl Gutzkows Roman „Die Ritter vom Geiste“ im Rahmen der Masterarbeit aufzeigt. Schon dessen etappenweise Veröffentlichung als Feuilletonroman folgt panoramatischen Prinzipien, indem literarisierte Einzelbeobachtungen sukzessive Einblick in den Roman gewähren, deren Kombination das Textgesamt ergibt.
Durch sein „modernes Erzählkonzept“ des „Nebeneinanders“ verfolgt Karl Gutzkow die Absicht, einen umfassenden gesellschaftlichen Überblick über die im Roman thematisierte Zeitspanne 1849 bis 1851 zu geben – so zählen über hundert Personen unterschiedlichster sozialer Schichten und deren im Einzelnen beleuchtete Lebensumstände zum Repertoire des Romans. Weiters trägt das Aufzeigen zeitgenössischer Entwicklungen und realpolitischer Tendenzen zur Realisierung von Gutzkows Vorsatz bei. Der „Roman des Nebeneinanders“ zielt außerdem auf die Darstellung der zeitlichen Parallelität ab: Die Romanhandlung unterliegt keinem streng chronologischen Verlauf der Zeit, sondern stellt das „Nebeneinander“ gleichzeitig ablaufender Geschehnisse innerhalb festgelegter Zeitspannen aus unterschiedlichen Perspektiven dar.
Die Masterarbeit nähert sich dem untersuchten Einfluss des Panoramas auf die Literatur des 19. Jahrhunderts in erster Linie über Forschungsliteratur, im Speziellen zur Bedeutung des „panoramatischen Blicks“ , an. Bestehende Erkenntnisse werden zusammengetragen und anhand der Texte E.T.A. Hoffmanns und Adalbert Stifters auf literarischer Ebene untersucht. Diese Analyse stützt sich ebenfalls auf einschlägige literaturwissenschaftliche Forschungsbeiträge.
Vor dem Hintergrund des Romans „Die Ritter vom Geiste“ und der Beschäftigung mit einschlägiger Sekundärliteratur bringt die Masterarbeit zudem neue Erkenntnisse hervor: Anhand eines Textausschnitts wird das „moderne Erzählkonzept“ in seiner Annäherung an visuelle Prinzipien des Panoramas erforscht. Übereinstimmung zeigt sich im komplexen erzähltheoretischen Versuch Karl Gutzkows, die Vielschichtigkeit der Zeit ähnlich der visuellen „Polyperspektive des Panoramas“ auf textueller Ebene abzubilden.
Abstract
(Englisch)
This master thesis focuses on the influence of the first modern mass medium, the „panorama“, in contemporary german literature of the 19th century. Since 1800, the panorama gave urban people in early european metropolises the opportunity to view the presented painting from a heightened platform in the middle of the panorama rotunda in its entirety. The artwork is fixed in a circular way over 360 degrees of the inner wall and pictures landscapes or cities in the realistic painting technique „trompe l’oeil“. It enables its visitors of an all-embracing overlook – the „panoramatic view“. This form of view allows the observer to either focus on details or contemplate the general view – the choice is up to the viewer, who therfore has a significant role in his or her own panoramatic experience. The overall view of the painting’s sujet only developes by linking together numerous views individually selected by the subject.
This way, the panorama breaks free of former, more restricted visual principles and media forms such as the „Guckkasten“, an established medium of the 18th century that is visually organized by the principles of „Rahmenschau“: the visual perception in the „Guckkasten“ is charaterized by a pre-determined perspective through a peephole that defines the sight of the presented painting or copper engraving in the middle of the medium.
The panorama’s viewing platform can hold more than 150 people at the same time – thereby, the panorama not only establishes a new kind of view, but also a more equal and democratic access to art, whose reception is no longer reserved only for higher social classes.
The „panoramatic view“ gained huge influence on the literature oft he 19th century: Its special kind of perception is mirrored in the respective protagonists‘ views, as the analysis of E.T.A. Hoffmann‘s book „Des Vetters Eckfenster“ and Adalbert Stifter‘s narration „Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephansthurmes“ shows. The protagonists are able to enjoy a panoramatic view over a huge city market from an aloft sited window or over the centre of Vienna from the top of a cathedral, respectively. In both cases the protagonists get a broad and infinite view over the city, with their position high above allowing them also to focus on specific individual details, events or inhabitants rather than the total view.
Beyond that, panoramatic structures also occur as a text organizing element in modern german literatur of the 19th century, as the analysis of Karl Gutzkows novel „Die Ritter vom Geiste“ illustrates. Already the book’s publication as a serial novel follows panoramatic structures: the periodically released parts only give insight in the novel successively, and only the combination of the episodes makes up the entire story line. Moreover, Karl Gutzkow‘s modern narrative concept called „Roman des Nebeneinanders“ (freely translated as the side-by-side novel) also revels in the panoramtic context, because it intends to give a comprehensive overview of society in the novel‘s era from 1849 to 1851, by presenting in detail and in parallel timelines more than one hundred co-existing characters of different social status and their personal living conditions plus political tendency and corporate conditions of this time. The narrative concept also aims to illustrate the chronological parallelism: the novel’s plot doesn’t follow a strictly chronological time lined, but shows the plurality of time by preseting co-existing events within fixed time periods from different points of view.
This master thesis approaches the influence of the panorama on geman 19th century literature by analysing secondary literature that focuses on the importance of the panoramatic view in german literature. In this way, existing knowledge is put together and analysed along the aforementioned narrations of E.T.A. Hoffmann and Adalbert Stifter.
Regarding Karl Gutzkow’s novel „Die Ritter vom Geiste“, the detailed discussion of four chapters along relevant secondary literature in this master thesis also leads to new conclusions: It is shown how the novel’s narrative concept relies on the visual principle of the panorama; especially so in Karl Gutzkow’s attempt to present the plurality of time at a textual level similar to the visual complexity of the panorama.
Schlagwörter
Schlagwörter
(Deutsch)
Panorama panoramatischer Blick Wahrnehmung Literatur des 19. Jahrhunderts
Autor*innen
Bettina Scheidl
Haupttitel (Deutsch)
Das Panorama als visuelles Wahrnehmungsmuster und Text organisierendes Element in der Literatur des 19. Jahrhunderts
Publikationsjahr
2015
Umfangsangabe
121 Seiten
Sprache
Deutsch
Beurteiler*in
Annegret Pelz
Klassifikation
17 Sprach- und Literaturwissenschaft > 17.74 Literaturwissenschaftliche Richtungen
AC Nummer
AC12733563
Utheses ID
35636
Studienkennzahl
UA | 066 | 817 | |