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Il (neo)tarantismo in letteratura
c'è sempre morso nella terra dei rimorsi
Alexandra Rieder
Art der Arbeit
Diplomarbeit
Universität
Universität Wien
Fakultät
Philologisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät
Betreuer*in
Birgit Wagner
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Alle Rechte vorbehalten / All rights reserved
DOI
10.25365/thesis.4632
URN
urn:nbn:at:at-ubw:1-29442.08509.981669-9
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(Print-Exemplar eventuell in Bibliothek verfügbar)

Abstracts

Abstract
(Deutsch)
Nach einer Einführung in die Erscheinungsform, Geschichte und Interpretationen des Tarantismus und seines Ausläufers auf der Penisola salentina, des Neotarantismus (Terminus geprägt von Anna Nacci im Jahre 2001), hat sich die vorliegende Diplomarbeit auf die Ein- und Umschreibung des Mythos der taranta pugliese und des mit ihr verbundenen Personen- und Therapiekomplexes konzentriert, welche in der italienischen Literatur vollzogen wurden. Dabei wurde der Aufnahme des Stoffes des Tarantismus und der mit ihm verbundenen Motive – wie die taranta (d.h. die Spinne), der (ri-)morso ([erneute] Biss bzw. Gewissensbiss), das (Spinnen-)Gift, die Musiktherapie und der ihr inhärente Heiltanz (mit Musikern) sowie die Besessenheit – sowohl in der Literatur des italienischen Kanons (beginnend mit Castigliones Il libro del Cortegiano bis zur Poetik des Leccesers Vittorio Bodini) als auch in der Gegenwartsliteratur (Angelo Morino, die Erzählsammlung Mordi&Fuggi et al.) nachgegangen. Es sollte untersucht werden, welche Funktionen dieser „Fortschreibung“ rund um die apulische Tarantelspinne – die sich in dieser Forschungsarbeit als ‚mise en abîme’ abzuheben scheint – innewohnen und ob ihre nicht mehr nur aleatorische ‚Präsenz’ in der Vorstellungswelt der italienischen GegenwartsautorInnen nur im Rahmen der neotarantismo-Bewegung der 90er-Jahre in der Subregion des Salento gelesen werden kann. Diese Bewegung kann als ein Wiederaufkommen und Forttragen des Kultes des Tarantismus bezeichnet werden, wie es unter anderem sein berühmtester Erforscher, Ernesto De Martino, 1959 niemals geahnt hätte (vgl. die jahrhundertelange Abwertung dieses Ritus sowie seines Personals bzw. der gesamten salentinischen Halbinsel). Auf der Suche nach dem mit dem Tarantismus verbundenen Motivkomplex konnten bestimmte leitmotivische weibliche Figurencharakterisierungen in der italienischen Gegenwartsliteratur ausgemacht werden, die auf interessante Weise von dem Entwurf der tarantata classica, der typischen Tarantelbesessenen des italienischen Literaturkanons, abweichen. In der modernen Literatur, im Besonderen in den Erzählungen von Mordi&Fuggi, haben sich nämlich trotz vehementer Beeinflussung durch die Bilder und Beschreibungen von De Martino und seinem Forschungsteam (siehe z. B. die Bündelung aller Eigenschaften einer Tarantelbesessenen in der berühmtesten tarantata Maria di Nardò) Metamorphosen des Tarantel-Stoffes auf textinterner Ebene vollzogen. Diese führten schließlich zu gelungenen und authentischen „Übersetzungen“ des klassischen Tarantismus – in weit größerem Maße als die Bewegung des neotarantismo: Anhand der Analyse von drei Geschichten aus Mordi&Fuggi (2007) sowie des „anthropologischen Romans“ Rosso taranta (2006) von Angelo Morino konnte ein neuer literarischer Archetypus in der italienischen Gegenwartsliteratur herausgearbeitet werden: la tarantata moderna, welche sich als ent-rückte, ent-fremdete und ver-rückte Protagonistin abzeichnet, die ähnliche Charakterzüge wie ihre salentinische Vorgängerin, die tarantata classica, trägt. Dieses Typusmotiv (vgl. Frenzel) bezeichnet ein weibliches Figurenpersonal, welches von neuen „Leid-Erfahrungen“ geprägt ist (vgl. il „male di vivere“, Marino Niola) und sich durch körperliche und psychische Alterationen, die Suche nach einem Zustand der epochè, d.h. der temporären Flucht, die Transgression von Grenzen jeglicher Art (zuweilen als Initiationsprozess) sowie Furor bzw. Wahnsinn auszeichnet. Diese unbezähmbaren und zügellosen Protagonistinnen, die viel mit der klassischen Vorgängerin der textexternen tarantata, der Mänade teilen, leben ein ‚Unwohlsein’, das auch oder vor allem in der Verfassung des Menschen – der Frau – des dritten Jahrtausends weitergetragen wird und das bezwungen, ‚geheilt’ werden will. Da aber das Wissen rund um den symbolischen Apparat der Heilung des Tarantelbisses nicht mehr weitergegeben wird (auch nicht auf textexterner Ebene, d.h. in der salentinischen Lebenswirklichkeit; vgl. dazu das Verschwinden von ‚Wahrern’ solcher ‚Ressourcen’ wie dem Musiktherapeuten Luigi Stifani von Nardò oder dem tamburellista Pino Zimba) und auch einige unserer Protagonistinnen gar nicht mehr der „patria elettiva“ des Tarantismus, d.h. Apulien angehören, vollzieht sich selten eine Heilung bzw. ein Wiedereintritt in das alltägliche Leben. Aufgrund der geleisteten Forschungsarbeit konnte das Potenzial der mythischen taranta für die Literatur besonders in den der tarantata zugeschriebenen Charakteristika und Handlungen erkannt werden. Somit lässt sich die moderne italienische Literatur, die um die Tarantelspinne zentriert ist, nicht als Mimesis von De Martinos La terra del rimorso (1961) oder nur als Antwort auf die Nachfrage des apulischen Marktes und die Vermarktung dieses Phänomens lesen, sondern die sospensione della vita, die Ent-rückung aus dem Alltag und der Verfall in oder die Suche nach dem temporären Wahnsinn sowie der zügellose Tanz einer rasenden Frau als antidotum tarantulae oder vitae scheinen vielmehr aktuellen Desiderata gerecht zu werden oder gegenwärtigen ‚Leid-Erfahrungen’ und Daseinsformen Ausdruck zu verleihen. In diesem Sinne lässt sich auch die triste Feststellung des Ich-Erzählers in Tommaso Di Ciaulas Roman Il dio delle tarantate (2001) verstehen: „Ci manchi tanto cara tarantola.“ (DdT: 34) – Nicht um ein Leid wiederheraufzubeschwören, das an den Tarantismus gebunden ist, sondern um das bereits vorhandene zu lindern („risorsa simbolica“, Clara Gallini), existenzielle Krisen zu bewältigen und an einen jahrhundertealten, strukturierten Ritus des Bruches mit und der Wiedereingliederung in eine Gesellschaft anzuschließen, die ‚Orte des Anderen’ oder ‚des temporären Wahnsinns’ zulässt. Daher scheint folgende Anrufung für unsere Protagonistinnen, die sehr oft keinen ‚offensichtlichen’ (Spinnen-)Biss mehr erleiden und auch keinen funktionierenden Apparat von Kulten (wie die dem Tarantismus inhärente Tanz-, Musik- und Farbtherapie et al.) mehr zur Disposition hätten, passend: „Espelli o tarantola il tuo veleno!” (Tommaso Campanella). MULTIMEDIABEILAGE: 20 BILDER
Abstract
(Englisch)
The present Master thesis brings the ‘translation’ of the myth of the Apulian taranta and the linked complex of persons and therapies, which takes place in contemporary Italian literature, into focus. The thesis begins with an introduction into the manifestation, story, and interpretation of tarantism and the recent phenomenon of neotarantism (Anna Nacci, 2001) on the Salentine peninsula. Following this, the thesis analyzes the material of tarantism and the underlying motives - like the taranta (the spider), the (ri-)morse , the venom, the musical and choreographic therapy and the possession - in the literature of the Italian canon (from Castiglione’s Il libro del Cortegiano to the poetry of the Apulian Vittorio Bodini) and in the contemporary literary production (Angelo Morino, the collection of stories Mordi&Fuggi et al.). In other words, the thesis discusses the meanings of the development of the Apulian taranta - which seems to resemble a mise en abîme in the present research work. Moreover, it has to be clarified, whether the actual ‘presence’ of tarantism in the imagination of contemporary Italian authors should be only interpreted in the course of the neotarantismo- movement in the 1990s in Salento. In the course of my research, I identified leitmotifs in the characterisation of the feminine literary characters (like Nora, Elina, Lallina et al.) among the set of motives linked to tarantism. These characters deviate from the concept of the tarantata classica. The tarantata classica has been described by the most recognized scholar of tarantism, Ernesto De Martino, and his team in the late 1950s (cf. the tarantata Maria di Nardò, the photos of Franco Pinna and the shots of Diego Carpitella) and is traceable in the literature of the Italian canon. It should be noted that in modern literature metamorphoses of the tarantula-material, in particular in the stories of Mordi&Fuggi, have taken place. Finally, these transformations have led to felicitous and authentic ‘translations’ of the classic tarantism – much more so than the neotarantism-movement. On the basis of three stories of Mordi&Fuggi (2007) as well as of the novel Rosso taranta (Morino, 2006) it was possible to extract a new literary archetype in modern Italian literature: la tarantata moderna, which refers to today’s victim of the tarantula’s bite. La tarantata moderna emerges like an estranged and mad protagonist who is lost in reverie. The protagonist’s character is partially consistent with his Salentine antecessor, the tarantata classica. This Typusmotiv (cf. Frenzel) portrays a feminine literary character (in particular Nora, Lallina, Elina and the feminine protagonists in Rosso taranta). The character is formed by a new suffering (cf. il “male di vivere”, Marino Niola) and distinguished by several factors: physical and psychic alterations, the searching of a state of epochè, the transgression of any borders (sometimes it’s a process of initiation), furor, and madness. These indomitable and licentious protagonists are living in a malaise that illustrates the condition of the human being of the third millennium and in particular of the women of Southern Italy. They want to be healed. However, a healing and a re-entry into everyday life rarely takes place as the knowledge of how to the heal the tarantula’s bite is no longer transferred (not even on the real Salentine peninsula because the musical therapists like Luigi Stifani di Nardò and the tamburellista Pino Zimba, “alberi di canto” (Mauro Pagani) are already dead). In addition, some of the feminine literary characters don’t belong anymore to Apulia, the “cultural fatherland” (patria elettiva, Clara Gallini) of tarantism. Therefore, modern Italian literary productions that pick up the taranta are not a mimesis of De Martino’s The Land of Rimorse (1961) or a response to the commercialization of tarantism and neotarantism. Modern Italian literary productions are rather fulfilling current desiderata like the sospensione della vita, the licentious dance of a maenadic woman as antidotum vitae or tarantulae et al. Finally, for the feminine protagonists who often are no longer suffering from a manifest spider morse, but also lack an efficient set of cults (like the musical, choreographic and chromatic exorcism inherent in tarantism, the adoration and guarantees of their patron Saint Paul), the following invocation seems to be highly appropriate: „Espelli o tarantola il tuo veleno!” (Tommaso Campanella).

Schlagwörter

Schlagwörter
(Deutsch)
Tarantismus Neotarantismus Ernesto De Martino Maria di Nardò Salento Galatina Tarantel Spinnenbiss
Autor*innen
Alexandra Rieder
Haupttitel (Italienisch)
Il (neo)tarantismo in letteratura
Hauptuntertitel (Italienisch)
c'è sempre morso nella terra dei rimorsi
Paralleltitel (Deutsch)
Der (Neo)Tarantismus in der Literatur
Publikationsjahr
2009
Umfangsangabe
202 S. : Ill.
Sprache
Italienisch
Beurteiler*in
Birgit Wagner
Klassifikationen
17 Sprach- und Literaturwissenschaft > 17.90 Literatur in Beziehung zu anderen Bereichen von Wissenschaft und Kultur ,
17 Sprach- und Literaturwissenschaft > 17.93 Literarische Stoffe, literarische Motive, literarische Themen ,
18 Einzelne Sprachen und Literaturen > 18.27 Italienische Literatur ,
73 Ethnologie > 73.57 Kulte, Riten
AC Nummer
AC07652765
Utheses ID
4117
Studienkennzahl
UA | 236 | 349 | |
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