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La questione meridionale da Gramsci agli anni cinquanta
l'evoluzione di un fenomeno storico rimasto irrisolto
Julia Teresa Cossidente
Art der Arbeit
Masterarbeit
Universität
Universität Wien
Fakultät
Philologisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät
Studiumsbezeichnung bzw. Universitätlehrgang (ULG)
Masterstudium Lehramt Sek (AB) UF Deutsch UF Italienisch
Betreuer*in
Johanna Borek
DOI
10.25365/thesis.64089
URN
urn:nbn:at:at-ubw:1-29582.06298.115561-2
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(Print-Exemplar eventuell in Bibliothek verfügbar)
Abstracts
Abstract
(Deutsch)
Die questione meridionale, auf Deutsch die süditalienische Frage, bezeichnet den Zustand des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rückstandes, welcher im Süden Italiens seit der Einheit bis heute herrscht – und im Vergleich zu früher andere Ausprägungen aufweist. Es handelt sich um ein hoch komplexes Thema, in dem sich wirtschaftliche, politische, kulturelle und soziale Aspekte vermischen. Im Laufe der Jahrzehnte haben sich Intellektuelle, Politiker und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen mit dem Nord-Süd-Gefälle auseinandergesetzt und eigene Interpretationen sowie Lösungsansätze angeboten. Antonio Gramscis Aufsatz Alcuni temi della quistione meridionale gehört zu den meist diskutierten und gleichzeitig am häufigsten interpretierten Texten zu diesem Thema. Seine Analyse ermöglichte eine neue Herangehensweise, durch die die süditalienische Frage nicht mehr aus einer reinen wirtschaftlichen und politischen Sicht betrachtet wurde, sondern die kulturellen und soziale Aspekte miteinbezog.
Ausgehend von Gramscis Aufsatz will diese Arbeit die questione meridionale analysieren und dadurch zeigen, wie seine Standpunkte die Debatte nicht nur für die zu Gramscis Zeit gegenwärtige Generation, sondern und insbesondere die folgenden Generationen, beeinflusste. Es handelt sich um eine Zeitspanne, die sich vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zu Beginn der 60er Jahre erstreckt. Diese Zeitspanne ist notwendig, um die Auswirkungen, die Gramscis Arbeit auf die italienische Kultur und Politik verursachten, zu verstehen.
Die Arbeit ist in drei Kapiteln aufgebaut: Das erste Kapitel ist Gramsci gewidmet, das zweite dem Intellektuellen Giustino Fortunato, den Gramsci kritisiert hat, den status quo der Intellektuellen aufrecht zu erhalten. Das dritte Kapitel analysiert die Auswirkungen von Gramscis Leitgedanke nach dem Zweiten Weltkrieg, als seine Werke das breite Publikum erstmals erreichen konnten, bis zu Beginn der 60er Jahre. Um zu verstehen, wie seine Gedanken und Begriffe, wie z.B. die Rolle der Intellektuellen, die Revolutionsrolle der Bauern interpretiert wurden, werden wichtige Persönlichkeiten und ihre Werke herangezogen. Dazu gehören der Politiker Giustino Fortunato, der Schriftsteller Carlo Levi, der Anthropologe Ernesto De Martino und der Regisseur Luchino Visconti. Durch die Analyse ihrer Arbeiten soll ein Gesamtbild entstehen, um Gramscis Einfluss nicht nur auf die Art und Weise, wie das vereinte Italien mit dieser Debatte umging, zu zeigen, sondern auf die italienische Kultur im Allgemeinen.
Der Aufsatz über die süditalienische Frage, der unter dem faschistischen Regime verfasst wurde, konnte erst 1945 die Leserschaft erreichen, als er von der kulturellen Kommission des Touriner Verband des PCi unter dem Titel La questione meridionale veröffentlicht wurde. Der Text wurde bereits 1930 zum ersten Mal veröffentlicht, allerdings in einer Fachzeitschrift (Lo stato operaio) in Paris. Die großen Massen konnten somit erst mit der späteren Veröffentlichung erreicht werden.
Der Originaltitel lautete Note sul problema meridionale e sull´atteggiamento nei suoi confronti dei comunisti, dei socialisti e dei democratici. Der Titel des Werks Alcuni temi sulla quistione meridionale, unter dem es bekannt wurde, stammt wahrscheinlich von den Redakteuren von Lo stato operaio. Dem Text wurde eine redaktionelle Anmerkung beigefügt, in der man darauf hinwies, dass der Aufsatz unvollständig war und dass Gramsci Verbesserungen vorgenommen hätte. Der Autor selbst hat in einem Brief des 19. März 1927 an seine Schwägerin Tatiana Schucht den Text als rasch und oberflächlich („rapidissimo e superficialissimo“) beschrieben. Heute herrscht die allgemeine Einigkeit, dass der Text als vollendet betrachtet werden soll .
Dennoch ist es ein Werk, das eine gewisse Eile aufweist. Die Verwendung des Begriffs Note (Anmerkungen) weist auf den provisorischen Charakter des Werkes hin. Man muss bedenken, dass Gramsci diesen Aufsatz unter besonderen Umständen schrieb: Das faschistische Regime hatte sich durchgesetzt und die kommunistische Partei Italiens musste heimlich handeln. Gleichzeitig war Gramsci 1926 der Meinung, dass eine Krise des Kapitalismus im Gange war und dass auch das faschistische Regime kurz vor der Auflösung stand. Aus diesen Gründen war es notwendig zu handeln: Gramsci hat seinen Aufsatz im Herbst 1926 beendet, kurz danach wurde er verhaftet.
Worin unterschied sich Gramscis Text von den vorher bereits verfassten Texten zu diesem Thema? Die sozialen und wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten den Bauern des Südens gegenüber konnte er in seiner Heimat Sardinien persönlich erleben. Als er mit zwanzig Jahren nach Turin emigrierte, entdeckte er aber die gleichen Ungerechtigkeiten den Fabrikarbeitern gegenüber. Sowohl Landwirte als auch Arbeiter wurden von den Kapitalisten ausgenutzt. Diese Situation galt es zu verändern. Durch seine journalistische und später durch die politische Arbeit bemühte sich Gramsci um die Bildung von Betriebsräten, die von den Arbeitern selbst geführt werden sollten und nicht von der Führungsschicht. Das Proletariat musste sich seiner Position bewusst werden, um in weiterer Folge durch die Revolution an die Macht zu kommen.
Diese proletarische Revolution war ein Prozess, der sich nicht mit der Machteinnahme auflöste, sondern der eine kulturelle Bildung und ein politisches Bewusstsein seitens der Arbeiterklassen forderte. Kulturelle Bildung zuerst, politische Bildung danach. Dies war Gramscis Leitgedanke. Nur durch die kulturelle Bildung und die Einführung einer Selbstregierung wäre es möglich gewesen, einen neuen Staat – von der Unterschicht gegründet – zu bilden, einen proletarischen Staat . Um diesen Staat aufzubauen, ist eine Allianz zwischen den zwei Klassen (Landwirte des Südens einerseits und Fabrikarbeiter des Nordens andererseits) Grundvoraussetzung, doch diese Allianz fehlte. Die süditalienische Gesellschaft ist laut Gramsci eine „grande disgregazione sociale“. Es fehlt eine Zusammengehörigkeit innerhalb der größten Gruppe, der Landwirte. Gramsci setzt seine Analyse fort, indem er die süditalienische Gesellschaft als eine Agrarblockade beschreibt, die in drei gesellschaftliche Schichten gegliedert ist: die Landwirte, die Intellektuellen der ländlichen Kleinen- und Mittelbourgeoisie, die Großgrundbesitzer sowie die großen Intellektuellen. Laut Gramsci haben letztere eine zweifache Schlüsselrolle. Einerseits haben sie eine Vermittlerfunktion, wodurch die Landwirte den Großgrundbesitzern verbunden bleiben. Andererseits erkennen sie die Bedürfnisse der Großgrundbesitzer, sorgen aber dafür, dass diese keine revolutionäre Veränderung bewirken. Für Gramsci ist es somit notwendig, dass die Intellektuellen diese Niederhaltung aufgeben.
In diesem Zusammenhang richtet Gramsci seine Kritik gegen die großen Intellektuellen Benedetto Croce und Giustino Fortunato. Mit ihren Werken haben sie bewirkt, dass sich die Intellektuellen zu einer nationalen und europäischen Kultur hingezogen fühlen. Damit nähern sie sich der nationalen Bourgeoisie und entfernen sich von den bäuerlichen Massen. Der Intellektuelle der Mittelschicht hingegen hängt von den Großgrundbesitzern und von den Großintellektuellen ab. Es sind aber letztere, die einen kulturellen Rahmen schaffen, die die Mittelschicht hindern, sich zu wehren und aus dieser Situation des status quo zu entfliehen.
Diese Verschlossenheit der Intellektuellen gegenüber jeglicher Form der Verbesserung ist typisch für den Süden Italiens, anders als in anderen Teilen des Landes. Gramsci zeigt seine Bewunderung gegenüber dem Kommunisten Gobetti: Er hatte es geschafft, die Intellektuellen aus der Industrie (die sog. „neuen Intellektuellen“) mit den Intellektuellen des Südens – die trotz der Agrarblockade fähig waren, die süditalienische Frage nicht auf traditionelle Weise zu sehen – zusammenzubringen. Gramsci hat die Theorie der Intellektuellen später in den Quaderni weitergeführt, man merkt aber, dass bereits im Aufsatz La questione meridionale der Grundstein gelegt wurde.
Die Besonderheit Gramscis in der Analyse der questione meridionale ist ihre Perspektive. Die süditalienische Frage war nicht ein wirtschaftliches Problem und seine Lösung hätte politische Handlungen benötigt, um eine kulturelle Veränderung hervorzurufen. Darüber hinaus wären diese Maßnahmen notwendig gewesen, um die intellektuelle Blockade zu überwinden, welche eine revolutionäre Auflehnung des Südens hinderte. Diese Strategie der Revolution ist eine nationale Strategie, deren Krönung nicht finanzieller, sondern kultureller und gesellschaftlicher Natur ist.
Ein weiterer Intellektueller, der sich vor Gramsci mit der süditalienischen Frage auseinandersetzte, war Giustino Fortunato. Fortunato war Journalist und Politiker. Einer seiner Verdienste war die Debatte über das Nord-Süd-Gefälle in die Politik und in die intellektuellen Kreise gebracht zu haben.
Giustino Fortunato und Gramsci verbindet der Gedanke, dass die questione meridionale eine nationale Frage war und dass ihre Lösung im Interesse des ganzen Landes stand. Außerdem haben beide vorgefasste Meinungen und oberflächliche Urteile abgelehnt. Nur die Kenntnis über die reale Situation im Süden ist die Grundlage, um eine Veränderung zu erzielen.
Ein großer Unterschied zwischen den beiden Intellektuellen ist der Lösungsansatz: Wenn Gramsci keine Veränderung von Seiten des Staates als möglich erachtete, besaß für Fortunato gerade der Staat die administrativen und legislativen Mittel, um die questione meridionale zu lösen. In der Analyse der Gründe des wirtschaftlichen Rückstandes des Südens konzentrierte sich Fortunato auf geografische und geschichtliche Faktoren. Gramsci betrachtete das Problem aus einer erweiterten Perspektive: Der Süden war nicht nur wirtschaftlich unterentwickelt, sondern auch sozial zersplittert und die Hintergründe waren nicht nur ökonomischer, sondern soziokultureller Natur.
Eines von Fortunatos berühmtesten Werken ist der Aufsatz La questione meridionale e la riforma tributaria. In diesem Text geht der Politiker den Ursachen für den Rückstand des Südens gegenüber dem Norden auf den Grund. Er fand sie in den geschichtlichen Entwicklungen, genauer genommen im Mittelalter. Diese Zeit hinderte die Entwicklung der Bourgeoisie. Dies verband Fortunato mit der geringen Verbreitung von Kapital und Reichtum. Gleichzeitig betont Fortunato die Rolle von natürlichen Faktoren: die Morphologie des Territoriums, das Klima, die Erde, die geografische Position im Gegensatz zum Rest Europas.
Doch das wichtigste Thema des Aufsatzes ist die sog. „sperequazione tributaria“ (die Unausgeglichenheit der Steuern). Die größte Ungerechtigkeit war laut Fortunato im Steuersystem auszumachen, das im Verhältnis mehr auf dem Süden lastete als in Zentral- und Norditalien. Es war außerdem belastender für die ärmeren Gesellschaftsschichten und für diejenigen, die ihr Einkommen aus Immobilien, wie z.B. Grundstücke und Gebäude, bezogen und somit eine Grundsteuer begleichen mussten als im Gegensatz zu denjenigen, die über Kapital und Profit, die durch einen fixen Steuersatz geregelt waren, ihr Einkommen bezogen.
Darüber hinaus räumt Fortunato mit Vorurteilen auf: Durch konkrete Beispiele zeigt er wie vorgefertigte Meinungen nicht der Wahrheit entsprechen. Das Königreich der zwei Sizilien ist ein Bsp.: Es kursierte der Gedanke, dass dieser reicher als andere Regionen Italiens zur Zeit der Einheit war.
In diesem Text bedauert Fortunato, dass nach der Einheit Italiens keine differenzierte Wirtschaftspolitik angewendet wurde, die die Stärken und Schwächen der Wirtschaft im Süden berücksichtige. Sein Aufsatz richtet sich somit an die damalige Führungsschicht, die Fortunato in Bezug auf die Situation des Südens erziehen möchte . Man merkt die große Distanz zwischen Gramsci und Fortunato. Fortunato spricht ein begrenztes Publikum an, das allerdings als jenes gesehen wird, das die süditalienische Frage lösen kann. Gramsci hingegen möchte die großen Massen mobilisieren. Wenn Gramsci Bauern und Landwirte erziehen wollte, möchte Fortunato Politiker und Gesetzesgeber erziehen, sodass auch diese eine erziehende Funktion ausüben können.
Auch in politischer Hinsicht unterscheiden sich beide Denker maßgeblich: Fortunato ist ein Liberaler, der soziale Unruhen fürchtet, er wollte die Situation im Süden lösen, um neue Unruhen zu vermeiden. Gramsci hingegen fordert eine Revolution, da er nicht glaubt, dass die Institutionen fähig sind, eine Lösung zu bieten. Er stellt sich ein neue Art von Staat vor, da die Intellektuellen und die Führungsklasse nichts tun können und wollen, um die Lebensbedingungen der Landwirte zu verbessern.
Während Gramsci eine Gesamtanalyse durchführt, die die sozialen und gesellschaftlichen Aspekte des Mezzogiorno miteinbezieht, konzentriert sich Fortunato auf die wirtschaftlichen, administrativen und legislativen Gründe des Rückstandes des Südens. Die Armut der Arbeiterklasse wird von Fortunato erkannt, doch seine Arbeit richtet sich nicht an sie. Er vertraute darauf, dass die gleiche Verteilung des Reichtums die sozialen Spannungen, die er fürchtete, gelindert hätte.
Eine weitere bedeutende Persönlichkeit in Bezug auf die süditalienische Frage ist Carlo Levi. Als Schriftsteller, Maler und politischer Aktivist interessierte sich Levi für die Probleme des Südens bereits nach dem Studium, als er den Aktivisten Piero Gobetti kennenlernte. Er wirkte bei einigen Zeitschriften mit, bis er für seine Mitarbeit 1935 zu drei Jahren Exil in Lucanien verbannt wurde. Die Erfahrung des Exils im Süden prägte ihn besonders. Daraus resultierte sein berühmtestes Werk Cristo si è fermato a Eboli, welches einen wichtigen Beitrag zur questione meridionale geleistet hat.
Das Werk kann keiner speziellen Gattung zugeordnet werden: Es ist gleichzeitig eine Denkschrift, eine Reportage und ein Roman, ein Beispiel der Exil-und Reiseliteratur. In diesem Werk zeigt sich Levi weder als externer Beobachter, noch schreibt er ein Tagebuch aus dieser Zeit. Es handelt sich vielmehr um ein „Erfahrungsprojekt“, in dem sich der Erzähler in eine soziale Welt versetzt, die ihm unbekannt ist, die sich ihm aber graduell enthüllt. Dadurch ist er immer mehr vom Leben und den Ereignissen, die ihn umgeben, betroffen, bis er darin eine zentrale Rolle innehat. Durch diesen besonderen Blick kritisierte Levi die Unterdrückung der Bauern des Südens und gleichzeitig zeigte er die Komplexität der Gesellschaft, in der er sich befand . Mit der Metapher des Christi wollte der Schriftsteller die Ausgrenzung der Landwirte der Lucania zum Ausdruck bringen und dieses Phänomen kritisieren. Ohne Zweifel konnte Levis Werk durch die Darstellung des Lebens der Landwirte ein breites Publikum erreichen und vor allem den nördlichen Regionen Italiens eine bisher unbekannte Welt in ihrer Armut und ihren Rückstand zeigen.
Nichtdestotrotz wies das Werk einige Widersprüche auf. Die Kultur und das ländliche Leben werden regungslos und undurchlässig dargestellt. Laut Mario Alicata war Levis Inszenierung des ländlichen Lebens außerhalb der Geschichte, ohne Zeit- und Ortverknüpfungen mit dem Rest der Welt zu berücksichtigen. Es ist unbestreitbar, dass Levis Vision eine zum Teil romantische und unrealistische Vision war.
Levi schränkt seine Arbeit allerdings nicht auf die Beschreibung der schwierigen Lebensbedingungen der Süditaliener (insbesondere der Landwirte) ein. Er kritisiert die Mittelbourgeoisie der kleinen Dörfer (dazu gehören die Großgrundbesitzer, der Podestà, der Pfarrer), die er als ausgeartet beschreibt, eine gesellschaftliche Schicht, „die ihre Aufgaben nicht erfüllt, die von kleinen Rauben lebt“ . Mit dieser Kritik lehnt sich Levi an Gramscis Gedanken an, auch wenn dies auf eine untypische Weise in Form der poetischen Erzählung geschieht. Dennoch bietet der Schriftsteller keine konkrete Lösung für das Italien der damaligen Zeit. Er wünscht sich vielmehr die Veränderung des Staates, welcher einen „Verein der Selbstständigkeiten“ darstellen soll, ein Staat, in dem jeder am Allgemeinleben teilnehmen kann.
Durch diese Analyse kann man feststellen, dass Levis Gedanken sich eher an Gramsci anlehnen als es bei Fortunato der Fall war. Doch um ein Gesamtbild zu erstellen, welches mehrere wissenschaftliche Gebiete miteinbezieht, müssen zwei weitere Persönlichkeiten vorgestellt werden: Ernesto De Martino und Luchino Visconti. Als Ethnograph und Ethnologe hat Ernesto De Martino das Problem des Südens aus einem anderen Blickwinkel dargestellt. Seine „trilogia meridionalista“ (Trilogie des Südens) ist das Ergebnis von ethnographischen Untersuchungen, die vor Ort zwischen 1949 und 1959 durchgeführt wurden. Diese betrafen insbesondere die Totenklage in der Lucania, das Ritual der Bezauberung und des Tarantismo im Salento. Mit diesen Untersuchungen konnte De Martino Wissenslücken, die das ländliche kulturelle Leben betrafen, schließen. Seine Ergebnisse erzielte er durch die wissenschaftlichen Mittel, die die neuen Disziplinen zur Verfügung stellten. Er führte Interviews durch, setzte Medien wie z.B. die Fotografie, die Dokumentar- und Tonaufnahme ein. Er bezog außerdem auch andere wissenschaftliche Disziplinen mit ein wie die Psychologie, die Psychiatrie, die Musikologie und die Geschichte.
Die ethnographische und anthropologische Studie hat laut De Martino zwei Ziele: die kulturellen Aspekte, die unter die Lupe genommen werden, zu verstehen und die kulturelle und tatsächliche Ausgrenzung zu beenden. Im Falle des Mezzogiorno bedeutete das, dass mit seinen Studien die Landwirte an dem politischen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen durften und dass sie sich endlich als Teil dieses Lebens fühlen sollten.
Seit Mitte der 1950er Jahre kam De Martino mit Gramscis Werken in Berührung und wurde stark davon beeinflusst. Mit Gramsci teilt er die Kritik gegenüber den großen Intellektuellen und die Überzeugung, dass der politische Kampf auch auf dem Boden der Kultur stattfinden müsse. Laut De Martino konnte die Anthropologie, das Kulturstudium und die Politik verknüpft werden, um damit die italienische Gesellschaft zu reformieren.
Gramsci und De Martino verbindet eine weitere Gemeinsamkeit: De Martino lehnte sowie Gramsci die Gegenüberstellung einer Hegemoniekultur und einer populären und untergebenen Kultur ab. In seinem Werk Intorno a una storia del mondo popolare subalterno kommt dieser Gedanke zum Ausdruck. In diesem Werk spricht De Martino von einem mondo popolare subalterno, welches der Welt der süditalienischen Landwirte entspricht. Diese Welt wird von der bürgerlichen Kultur mehr als eine Sache, die man beherrscht und ausnutzt, betrachtet, als eine Welt, die von Menschen belebt wird . Um diese Situation zu verändern, schlug De Martino den sog. „inbarbarimento“, die Verwilderung der Kultur, vor. Die Masse der ländlichen Bevölkerung, indem sie die Geschichte eingebunden wird, bringt sie ihre Kultur mit. Diese Verwilderung sollte, um es mit Gramscis Worten auszudrücken, die Massen erziehen.
Schließlich erinnert De Martino daran, dass man sich in der süditalienischen Literatur auf die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Aspekte konzentriert hat, während die kulturellen und religiösen Aspekte ausgelassen wurden. Er erkennt Gramsci als den ersten, der die questione meridionale in ein neues Licht geführt und die Aufmerksamkeit auf die Rolle der Intellektuellen und der Kultur gebracht hat, an.
Die questione meridionale hat Auswirkungen auf viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens gezeigt, darunter auch für das Kino. Wenn man die questione meridionale und das Kino in Verbindung bringt, kann man den Neorealismo nicht unerwähnt lassen. Der Neorealismo ist ein kultureller Moment. Er entstand in der Zeit zwischen dem Zweiten Weltkrieg, dem Niedergang des Faschismus und dem Ende des Konflikts. Er betraf Vertreter unterschiedlicher Kunstrichtungen wie etwa Fotografen, Regisseuren, Schriftsteller und Künstler und wirkte durch verschiedene Medien wie das Fernsehen, das Radio, das Kino, Romane etc. Dennoch hat das Kino den größten Einfluss auf die italienische und europäische Kultur ausgeübt.
Die Eigenschaft des cinema neorealistico bestand darin, dass man die Wahrheit ohne Filter darstellen wollte. Somit lehnte man technische Mittel, die nicht realistisch wirkten, ab. Man bevorzugte z.B. die Aufnahme der Montage. Selbstverständlich hat auch die historische Zeit, in der diese Kunstrichtung entstanden ist, eine große Rolle gespielt. Cinecittà war zu dieser Zeit nicht betretbar, da die US-Truppen das Areal als Flüchtlingslager nutzten. Die Filmcrew musste improvisierte Sets erstellen . Diese besondere Situation ermöglichte, das Land so zu zeigen, wie es war, um ihm seine Würde zurückzugeben. Für die Settings wurden einige Regionen des Südens wiederentdeckt, wie z.B. Sizilien, Neapel oder die Landschaften der Toskana.
Einer der Begründer des Neorealismo ist Luchino Visconti mit dem Film Ossessione. Weitere wichtige Vertreter sind Vittorio De Sica, Giuseppe De Santis und Zavattini. In einer Phase der intellektuellen Reifung entwickelte Visconti ein großes Interesse für das Nord-Süd-Gefälle und für die questione meridionale. Letztere thematisierte er in drei Filmen, La terra trema, Rocco e i suoi fratelli und Il Gattopardo. Auch wenn Rocco e i suoi fratelli kein typisch neorealistischer Film ist, stellt er eine Kontinuität zum Neorealismo dar, sowohl für den Zweck als auch für das behandelte Thema. Typisch für den neorealistischen Film ist der Eindruck, als seien die erzählten Geschichten private Geschichten. Visconti wollte eine seiner Meinung nach typische Geschichte, die die Auswanderung, die kulturelle Identität und die Schwierigkeiten diese zu verändern, betraf und nicht ein besonderes Ereignis erzählen.
Visconti wollte Gramscis Vorstellungen fortführen, auch wenn die wirtschaftlichen Reformen teilweise zu einer Verbesserung der Lebenssituation im Süden geführt hatten. Die Reformen hatten den wirtschaftlichen Rückstand des Südens nicht ausgleichen können, die Emigration in den industrialisierten Norden war der Beweis dafür. Der wirtschaftliche Fortschritt hatte das kulturelle Gefälle zwischen Norden und Süden nicht lösen können. Dieser Aspekt spiegelt sich in Rocco e i suoi fratelli wider.
Der Film erzählt die Geschehnisse einer Familie aus der Basilicata: Eine Mutter wandert mit ihren fünf Söhnen nach Mailand aus. Mit unterschiedlichen Nuancen erzählt jede Figur eine Geschichte von kulturellen Begegnungen und Auseinandersetzungen zwischen Norden und Süden. Der Film will außerdem zeigen, dass dieser kulturelle Unterschied auch denjenigen Schwierigkeiten bereitet, die sich bemühen, sich den neuen kulturellen Kontext anzupassen.
Zum kulturellen Aufprall kommt der Generationenzusammenstoß hinzu. Die Mutter bemüht sich, sich in einer schwierigen Situation und in einem fremden kulturellen Umfeld (die Großstadt des Nordens) durchzusetzen und dennoch die Lebensbedingungen ihrer Familie zu verbessern. Sie ist von einem alten Familienbild geprägt, nämlich jenes einer Familie, die durch gegenseitige Unterstützung und gemeinsame Ziele zusammenhält. Sie repräsentiert die alte Generation, die durch die neuen Möglichkeiten bereit ist zu emigrieren, aber dennoch ihre Ursprungskultur nicht verändern will und verlangt, dass die Kinder das auch tun. Die Kinder repräsentieren die neue Generation, die versucht, sich eine eigene Zukunft aufzubauen. Die Schwierigkeiten, die durch die Auswanderung zur Geltung kommen, und der Einfluss der Ursprungskultur vermischen sich in der Persönlichkeit jeder einzelnen Figur. Der Protagonist, Rocco, opfert sich für seine Familie und für seinen Bruder zuungunsten seiner persönlichen Interessen. Er setzt seine Karriere als Boxer fort, auch wenn er das nicht will, um die Schulden des Bruders Simone zu begleichen. Als dieser ihn und Nadia attackiert, sorgt er sich weiterhin für ihn. Auch als Simone Nadia tötet, möchte Rocco es der Polizei verheimlichen, um seinen Bruder und seine Familie zu beschützen. Indem er seinen Bruder nicht als das anerkennt, was er ist, beweist er, dass er in einer idyllischen Vergangenheit leben will, die nicht mehr existiert. Er behauptet, dass nichts was ihnen an Bösem passiert ist, je passiert wäre, wenn sie „zu Hause“ geblieben wären.
Rocco ist auch derjenige, der sich seiner Situation – die auch alle anderen Emigrierten betrifft – bewusst ist. Er wünscht sich, dass die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Veränderung an seinem Ursprungsort möglich wäre, ohne den Druck der Integration erleiden zu müssen, ohne mit der Entscheidung konfrontiert zu werden, zwischen der eigenen kulturellen Identität und der neuen Mentalität wählen zu müssen. Diese Kenntnis hindert ihn nicht, große Fehler zu begehen: Beim Versuch Simone zu retten verliert er schließlich sowohl ihn als auch Nadia.
Rocco versagt, doch seine jüngeren Geschwister Ciro und Luca sind die Hoffnung, um eine bessere Zukunft aufzubauen. Ciro hat sich am besten integrieren können. Er arbeitet als Bauarbeiter, studiert und hat eine Beziehung. Er scheint nicht den Druck zu fühlen, die Ursprungsidentität beizubehalten und beweist, ein eigenes Urteilsvermögen zu besitzen. Das zeigt sich, als Ciro zur Polizei gehen will, um seinen Bruder Simone anzuzeigen und sich damit gegen die gesamte Familie auflehnt.
Die wahre Hoffnung für das Mezzogiorno ist der jüngste Sohn Luca. Er ist noch an die alten Werte gebunden und möchte in seine Heimat Lucanien zurückkehren.
Für Visconti wäre es die beste Lösung gewesen, wenn die kulturelle Veränderung des Südens in den Ursprungsorten stattgefunden hätte. Im Film will er zeigen, dass es eine Welt gibt, die verschwindet und eine neue, die durch die neuen Generationen aufkommt . Die Hoffnung, die am Ende des Filmes bleibt, ist, dass diese fähig sind, die neue Welt zu umarmen.
Die von Gramsci und den Intellektuellen der Fünfzigerjahre gekannte questione meridionale existiert nicht mehr. Auch wenn ein wirtschaftsgesellschaftliches Gefälle zwischen dem Norden und dem Süden besteht, haben sich die soziokulturellen und wirtschaftlichen Bedingungen geändert. Das Gefälle ist noch in der Ökonomie, in der Qualität der Dienstleistungen und im organisierten Verbrechen präsent. Im Vergleich zur Vergangenheit steht die Entwicklung des Mezzogiorno aber nicht mehr im Zentrum des politischen Geschehens. Die Geschichte der questione meridionale war dennoch eine Geschichte der Verbesserung, der Anwendung neuer analytischer Instrumente und der Öffnung zu neuen Disziplinen. Sie hat die Welt der Intellektuellen und Politiker mittels Statistiken, Gesellschaftsanalysen und Feldforschungen bereichert. Gramsci wollte nicht der Debatte zur questione meridionale beitreten, da diese wirtschaftliche Lösungsansätze anstrebte, die er ablehnte. Seine Lösung war anders: Er wollte die ländlichen Massen mobilisieren, um eine Veränderung durch eine Revolution herbeizuführen. Durch seine Analyse der süditalienischen Gesellschaft und der Feststellung der Gründe, die die Massen gehindert hatten, sich zu organisieren und ihre Lebensbedingungen zu verbessern, hat er eine neue Herangehensweise gezeigt. In diesen überwundenen Stereotypen, den wirtschaftlichen Zahlen und begrenzten Lösungen besteht Gramscis Erbe.
Schlagwörter
Schlagwörter
(Englisch)
Gramsci South Italian question Levi De Martino Viscontic
Schlagwörter
(Deutsch)
Gramsci süditalienische Frage 50er Jahre Levi De Martino Visconti
Autor*innen
Julia Teresa Cossidente
Haupttitel (Italienisch)
La questione meridionale da Gramsci agli anni cinquanta
Hauptuntertitel (Italienisch)
l'evoluzione di un fenomeno storico rimasto irrisolto
Paralleltitel (Deutsch)
Die süditalienische Frage von Gramsci bis in die 50er Jahre : die Entwicklung eines historisch ungeklärten Phänomens
Publikationsjahr
2020
Umfangsangabe
98 Seiten
Sprache
Italienisch
Beurteiler*in
Johanna Borek
Klassifikationen
02 Wissenschaft und Kultur allgemein > 02.00 Wissenschaft und Kultur allgemein: Allgemeines ,
15 Geschichte > 15.00 Geschichte: Allgemeines
AC Nummer
AC16067850
Utheses ID
56861
Studienkennzahl
UA | 199 | 506 | 517 | 02
