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Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und der Kulturrelativismus
Genealogie eines Ideals
Madeleine Müller
Art der Arbeit
Dissertation
Universität
Universität Wien
Fakultät
Rechtswissenschaftliche Fakultät
Studiumsbezeichnung bzw. Universitätlehrgang (ULG)
Doktoratsstudium Rechtswissenschaften
Betreuer*in
René Kuppe
DOI
10.25365/thesis.73435
URN
urn:nbn:at:at-ubw:1-24196.68761.221852-4
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(Print-Exemplar eventuell in Bibliothek verfügbar)
Abstracts
Abstract
(Deutsch)
Die gegenständliche Arbeit nahm sich der Hauptforschungsfrage an, inwieweit die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte mit dem Kulturrelativismus vereinbar ist, wozu nach einem kurzen Definitionsversuch der Menschenrechte zunächst das Phänomen der Menschenrechte durch eine genealogische Untersuchung historisch aufgearbeitet wurde. Dadurch hat sich gezeigt, dass zwar die Idee der Menschenrechte sowie die Vorstellung von universell gültigen Werten im Allgemeinen mehrere Jahrtausende zurückreicht, die tatsächliche rechtliche Verankerung der Menschenrechte allerdings erst im Rahmen der Aufklärung einsetzte. Die als erste Menschenrechtsdeklarationen klassifizierten Menschenrechtsdokumente des 18. Jahrhunderts fußten dabei hauptsächlich auf „westlichem“ Gedankengut, wozu insbesondere die als „Trias“ bezeichneten Prinzipien des Individualismus, der Vernunft sowie der Menschenwürde im rechtlichen Sinn zählen. Die 1948 verkündete und im Wesentlichen auf diesen frühen Erklärungen aufbauende AEMR greift daher ebenfalls auf hauptsächlich westliches Gedankengut zurück, was sich insbesondere anhand der näheren Analyse ihres Entstehungsprozesses, der beteiligten Staaten, sowie anhand einer genaueren Untersuchung der einzelnen Bestimmungen gezeigt hat. Aus diesem Grund können sowohl der historische Entstehungsprozess der Menschenrechte als auch die dem Entwurf der AEMR zugrunde liegenden Rahmenbedingungen als Indizien dafür gesehen werden, dass die AEMR ein zu einseitiges Menschenrechtsverständnis aufweist und daher den Kulturrelativismus in ihrer ursprünglichen Form ausblendet. Dass dabei der Kulturrelativismus in seiner deskriptiven Form existiert und damit die kulturelle Vielfalt auf beschreibende Weise mit universellen Werten in Einklang bringen möchte, wurde ebenfalls bejaht, wobei der Universalismus als These und der Kulturrelativismus als Antithese eingestuft wurden, die es im Sinne einer dialektischen Herangehensweise zu einer Synthese zu vereinen galt. Dies konnte einerseits durch die Vorstellung der UNESCO-Umfrage 1947 bestätigt werden, da diese ans Licht brachte, dass zum Zeitpunkt der Verkündung der AEMR unterschiedliche Auffassungen in Bezug auf Menschenrechte bestanden. Diese Kritik an der AEMR hob auch das Statement der AAA 1947 hervor, in welchem der AEMR vorgeworfen wurde, die kulturelle Vielfalt auszublenden sowie ein zu individualistisches Menschenrechtsbild zu propagieren. Diese Vorwürfe in Verbindung mit kulturrelativistischen sowie Indigenen Kritikpunkten sollten sich durch die auf die Verkündung der AEMR folgenden Jahrzehnte ziehen, wobei selbst in den als „Wendepunkt“ gehandelten 1990er Jahren die Universalität der Menschenrechte nicht restlos bestätigt werden konnte. Es wurde daher ersichtlich, dass eine Lösung der menschenrechtlichen Problematiken nicht in einer Extremposition gefunden werden kann, weshalb sich insbesondere um die Jahrtausendwende zahlreiche pluralistische Mischpositionen entwickelt haben, die ihr Plädoyer für kulturelle Vielfalt auf einem Fundament aus universellen Basisrechten aufbauen. Diese pluralistischen Ansätze boten daher einen idealen Anknüpfungspunkt für eine Synthese, der durch den Rückgriff auf vier Fallbeispiele praktische Relevanz verliehen wurde. Der daraus erarbeitete Lösungsansatz stützt sich dabei einerseits auf die Erkenntnis, dass es sich bei Kulturen um dynamische, fluide Phänomene handelt, deren Bedürfnissen nur angemessen Rechnung getragen werden kann, sofern man auch den internationalen Menschenrechtskatalog im Sinne einer dynamischen Interpretation als wandelbares sowie evolutives Völkergewohnheitsrecht einstuft. Menschenrechte und damit im Speziellen die Bestimmungen der AEMR müssen daher als abstrakte Standards (basic values) verstanden werden, die sich an die jeweiligen kulturellen Begebenheiten sowie Werte adaptieren lassen, wodurch die AEMR mit dem deskriptiven Kulturrelativismus in Einklang gebracht werden kann. In formeller Hinsicht wurde darauf hingewiesen, dass einer derartigen Synthese einerseits nähergekommen werden kann, indem ein interkultureller Dialog geführt wird und eigene kulturelle Praktiken durch einen externen Austausch hinterfragt werden. Darüber hinaus erwies es sich als unerlässlich, auf die Notwendigkeit eines „intra-kulturellen Konflikts“ hinzuweisen, da erst durch interne Debatten zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft eine authentische Selbstreflexion stattfinden und Veränderungen im Rahmen der eigenen Weltsicht angestoßen werden können. Der (Rechts-)Anthropologie kommt in diesem Prozess die wertvolle Rolle einer Vermittlerin zu, da sie darin geübt ist, Kulturen werturteilsfrei zu erforschen sowie jenen zur Seite zu stehen, die sich ansonsten kein Gehör auf der internationalen Bühne verschaffen können. Dass dies insbesondere auf Indigene Völker zutrifft, wurde detailliert erörtert, weshalb auch ersichtlich wird, weshalb die gegenständliche Arbeit hauptsächlich aus der Indigenen Perspektive verfasst wurde, da sich anhand der Indigenen Forderungen und Ansprüche die praktische Relevanz der angestellten Überlegungen deutlich aufzeigen lässt. Die Hauptforschungsfrage nach der Vereinbarkeit der AEMR mit dem Kulturrelativismus konnte daher unter der Bedingung eines dynamischen sowie evolutiven Rechts- sowie Kulturverständnisses bejaht und wertvolle Anknüpfungspunkte für weitere Forschungsvorhaben herausgearbeitet werden.
Abstract
(Englisch)
This thesis addressed the main research question of the extent to which the Universal Declaration of Human Rights (UDHR) is compatible with cultural relativism. For this purpose, after a brief attempt to define human rights, the phenomenon of human rights was first analyzed from a historical perspective, thereby employing a genealogical investigation. This showed that the concept of universally valid values, in general, goes back several millennia, whereas the actual legal codification of human rights only began during the Enlightenment. The human rights documents of the 18th century, which are classified as the first human rights declarations, were mainly based on "Western" ideas, including in particular the principles of individualism, reason, and human dignity in the legal sense, which were referred to as the "triad" of human rights principles. The UDHR, which was adopted in 1948, essentially drew upon these early declarations and thus mainly contains “Western” ideas, as has been shown in particular by a closer analysis of its drafting process, the states involved, and a more detailed examination of the individual provisions. For this reason, the historical process of the development of human rights, as well as the framework that conditioned the drafting of the UDHR, can be considered indications that the UDHR in its original form contains a “Western” understanding of human rights and therefore ignores cultural relativism. The fact that cultural relativism exists in its descriptive form and thus seeks to reconcile cultural diversity with universal values was also affirmed. In doing so, universalism was classified as a thesis, whereas cultural relativism was considered an antithesis, whereby both approaches had to be united in synthesis in the sense of a dialectical approach. On the one hand, this could be confirmed by the illustration of the UNESCO survey 1947, since it showed that at the time of the adoption of the UDHR different views with regard to human rights existed. This criticism of the UDHR was also highlighted by the statement of the AAA in 1947, in which the UDHR was accused of ignoring cultural diversity and propagating an overly individualistic view of human rights. These accusations, in conjunction with cultural relativist and Indigenous criticisms, were to continue throughout the decades following the adoption of the UDHR. In the 1990s, which were actually regarded as a "turning point" within the debate, the universality of human rights could not be completely confirmed either. It, therefore, became apparent that a solution to human rights problems could not be found in one extreme position, which is why numerous pluralistic mixed positions developed, advocating cultural diversity on a foundation of universal basic rights. These pluralistic approaches thus offered an ideal starting point for synthesis, which was given practical relevance through the introduction of four case studies. It followed that cultures are dynamic, fluid phenomena and that their needs can only be adequately met if the international human rights catalogue is also classified as evolutive and adaptable customary international law in the sense of a dynamic interpretation. Human rights, and in particular the provisions of the UDHR, must thus be understood as abstract basic values that can be adapted to the respective cultural circumstances and values, through which the UDHR can be reconciled with descriptive cultural relativism. From a formal point of view, it was highlighted that such synthesis can be approached by conducting an intercultural dialogue and questioning one's own cultural practices through an external exchange. Furthermore, it proved essential to point out the necessity of an "intra-cultural conflict", since an authentic self-reflection and changes in one’s worldview can only be initiated through internal debates between the members of a community. In this process, (legal) anthropology has the valuable role of a mediator, as it is trained to examine cultures without judgement and to stand by those who otherwise cannot make themselves heard on the international stage. The fact that this is particularly true for Indigenous peoples has been discussed in detail, which is also why this thesis was mainly written from an Indigenous perspective, as the practical relevance of the considerations made can be clearly shown in relation to Indigenous demands and claims. The main research question of the compatibility of the UDHR with cultural relativism could therefore be affirmed under the condition of a dynamic understanding of law and culture, and valuable starting points for further research projects were brought to light.
Schlagwörter
Schlagwörter
(Deutsch)
Menschenrechte AEMR Kulturrelativismus Indigene Völker
Schlagwörter
(Englisch)
Human Rights UDHR cultural relativism Indigenous Peoples
Autor*innen
Madeleine Müller
Haupttitel (Deutsch)
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und der Kulturrelativismus
Hauptuntertitel (Deutsch)
Genealogie eines Ideals
Publikationsjahr
2022
Umfangsangabe
viii, 413 Seiten
Sprache
Deutsch
Beurteiler*innen
Hannes Tretter ,
Heiner Bielefeldt
Klassifikation
86 Recht > 86.85 Menschenrechte
AC Nummer
AC16831049
Utheses ID
64792
Studienkennzahl
UA | 783 | 101 | |