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Kinder verlassen das Nest
der Prozess des Erwachsenwerdens in der niederländischen Kinderliteratur in den 50er und 90er Jahren ; ein Vergleich zwischen Annie M.G. Schmidt und Joke Van Leeuwe
Maria-Elisabeth Porsch
Art der Arbeit
Diplomarbeit
Universität
Universität Wien
Fakultät
Philologisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät
Betreuer*in
Herbert Van Uffelen
DOI
10.25365/thesis.8794
URN
urn:nbn:at:at-ubw:1-30409.92692.123470-4
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(Print-Exemplar eventuell in Bibliothek verfügbar)
Abstracts
Abstract
(Deutsch)
Das zentrale Thema der Arbeit ist der Prozess des Erwachsenwerdens und inwieweit er sich in den Werken von Annie M. G. Schmidt und Joke Van Leeuwen wiederfindet. Weiters wurde erörtert, an welchen Punkten sich dieses Thema in den Büchern der beiden Autorinnen überschneidet und wo es just nicht übereinstimmt. Dies habe ich anhand einer literatursoziologischen und einer literaturpsychologischen Betrachtung dargestellt. Aber nicht nur die Werke, sondern auch die Autorinnen selbst wurden einander in dieser Arbeit gegenübergestellt.
Unter dem Begriff des Erwachsenwerdens verstehe ich eine Beschreibung, die sich zu einem großen Teil aus den Erörterungen Martin Kohlis und Tilman Scheipers ableitet. Die beiden Autoren sehen eine Verknüpfung gesellschaftlicher und psychischer Vorgänge.
So wurde zum Beispiel die soziale Ablösung anhand der niederländischen Heiratszahlen in den 50er und 90er Jahren verglichen. Daraus ergab sich, dass sich das durchschnittliche Alter zum Zeitpunkt der ersten Eheschließung nicht wesentlich verändert hat und in beiden Jahrzehnten relativ hoch ist. Die Gründe hierfür sind aber jeweils andere. In den 50er Jahren war der Zweite Weltkrieg noch nicht lange vorbei und seine Auswirkungen waren noch deutlich zu spüren. Später verschob sich das Alter nach einem Einbruch in den 70er Jahren wieder nach oben, da sich große gesellschaftliche Veränderungen, vor allem die Weiterführung der Emanzipationsbewegung der 68er, auf die Ansprüche und Wünsche der Gesellschaft auswirkten. War es früher für Frauen noch oft eine finanzielle Frage, ob sie heirateten oder unverheiratet bleiben wollten, so ist dies heute in den Niederlanden kaum noch ein Thema. Für die Werke der beiden Autorinnen ist dieser Punkt nicht so relevant, da beide Protagonisten noch zu jung sind, um zu heiraten. Anhand der Biografie der beiden Autorinnen selbst aber lässt sich eine Analogie zu diesem Punkt ableiten. Während Annie M. G. Schmidt lange Zeit unter ihrem Status als unverheiratete Frau litt und auch mit vielen tatsächlichen Einschränkungen konfrontiert war, ergab sich eine derartige Problematik für Joke Van Leeuwen nicht. Auf
dieser Ebene fällt ein Kampf weg, dem sich viele Frauen in den 50er Jahren noch stellen mussten, um als vollwertige Erwachsene gesehen zu werden.
Ein weiterer Punkt anhand dessen sich der Prozess des Erwachsenwerdens ableiten lässt, ist die ökonomisch-finanzielle Ablösung, die sehr stark mit dem Eintritt in die Arbeitswelt verbunden ist. Dieser hat sich in den Niederlanden zwischen den 50er und den 90er Jahren stark verändert. Für die 50er Jahre gibt es von Seiten des CBS keine Daten, in den 60er Jahren aber arbeiteten noch über 50 Prozent der Jugendlichen zwischen 14 und 19 Jahren. In den 90er Jahren sank diese Zahl auf 21 Prozent bei Männern und 17 Prozent bei Frauen. Dieser Trend ist in den behandelten Büchern sehr stark zu erkennen. In Abeltje dreht sich vieles um den Eintritt ins Berufsleben, während für Viegeltje diese Frage ziemlich ausgeklammert ist, was verdeutlicht, dass sich die Berufsfindung heute durch ausgeweitete Ausbildungsmöglichkeiten nach hinten verschoben hat. Außerdem zeigen sich hier die ersten Verbindungslinien zwischen Psychologie und Soziologie. Anhand der Farbpsychologie nach Elisabeth Hettwer wurde in dieser Arbeit die Farbe der Uniform Abeltjes behandelt, welche exemplarisch für dessen Eintritt in die Arbeitswelt und gleichzeitig seinen damit einhergehenden Übergang vom Kind zum Erwachsenen symbolisiert. Die Uniform selbst und deren steigende Bedeutung für Abeltje transportieren die Ebene der Bedeutung seines Berufes, ihre rote Farbe spiegelt das Element des Männlichen wider, in das der Junge langsam hineinwächst.
Die Berufswahl stellt laut Böschenstein in der Phase der Adoleszenz häufig ein großes Problem dar. Sie ist eine Zeit großer Instabilität, in der sich junge Menschen erst selbst finden müssen. Zu dieser Zeit entscheiden zu müssen, womit man sich später intensiv befassen möchte, ist häufig eine Überforderung. Auch für Abeltje stellt dies ein Problem dar, das er erst durch die Entscheidung seiner Mutter umgeht. Sie entscheidet schlichtweg für ihn, welchen Beruf er ergreifen soll, im Laufe seiner Reise findet er selbst seinen Weg, der sich in diesem Fall mit der Wahl seiner Mutter deckt.
Viegeltje steht repräsentativ für eine neue Generation junger Erwachsener. Heute stellt sich zwar auch häufig noch in der Phase der Adoleszenz die Frage nach der Berufswahl, durch die Möglichkeit eine Lehre zu beginnen oder eine berufsbildende Schule zu besuchen. Der Weg ist dennoch durch eine Verbesserung des Bildungssystemes viel offener geworden. Wer sich für eine berufsbildende Ausbildung entscheidet, der kann später immer noch etwas ganz anderes studieren und somit in einer Lebensphase, in der er sich selbst schon viel besser kennt, noch einmal eine Umentscheidung treffen.
Das nächste näher betrachtete Thema, die räumliche Ablösung, ist gewissermaßen das zentrale Thema beider Bücher. In soziologischer Hinsicht ist hiermit der Auszug aus dem Elternhaus und die Gründung eines eigenen Haushaltes gemeint. Die Literatur befasst sich mit diesem Thema auf ihre eigene Weise und verwendet einen metaphorischen Zugang zu dieser Materie. Abeltje verlässt sein Elternhaus und zieht in seinem Lift um die Welt, Viegeltje verlässt ihre Eltern und sucht sich immer wieder verschiedene Plätze, an denen sie sich wohl fühlt. Hand in Hand geht dieser soziologische Hergang mit dem psychologischen Phänomen des leeren Nestes. Martin Textor zeigt auf, dass die Loslösung vom Elternhaus selbstverständlich nicht nur auf Seiten der Kinder Folgen hat, sondern auch für die Eltern von großer Bedeutung ist. Häufig ist dies eine Situation, mit der sie sehr zu Kämpfen haben. Abeltjes Mutter stößt die Tatsache, dass ihr Sohn aus ihrem Leben verschwunden ist, in große Trauer. Als er zurückkehrt, wird er Zeuge eines Gespräches zwischen seiner Mutter und einer ihrer Kundinnen. Dieser erzählt die Mutter verzweifelt von dem Verschwinden ihres Sohnes und es scheint so, als würde sie dieses Thema so sehr beschäftigen, dass sie häufiger ihre Gedanken und Gefühle hierzu mit außenstehenden Menschen teilt.
In Iep! ist dies ein zentrales Thema. Van Leeuwen konzentriert sich sehr stark darauf, was sich auf Seiten der Eltern abspielt, wenn das Kind das gemeinsame Nest verlässt. In dieser Phase ist es für die Eltern besonders wichtig, die Gemeinsamkeiten zwischen sich und dem Kind zu akzentuieren. Dies tut Tine sehr deutlich, indem sie die Füße ihrer Tochter mit roten Schuhen hervorhebt. Während der soziologische Aspekt der räumlichen Abgrenzung in den psychologischen Bereich des leeren Nestes übergeht, reicht dieser wieder hinein in die Farbpsychologie. Denn die Farbe der Schuhe kommt nicht von ungefähr. Auch der Versuch Tines, die Flügel ihrer Tochter, also deren Gegensätzlichkeit, zu vertuschen, wird bei Joke Van Leeuwen anhand der Farbpsychologie sichtbar. Weiters spiegelt sich das dringende Bedürfnis nach Nähe und Harmonie der Eltern in der Farbe der Station des Horstels wider, in dem diese unterkommen.
Ein weiteres und für mich persönlich das zentrale Motiv in den beiden Büchern, ist das Fliegen. Dies ist unter literaturpsychologischer Betrachtung nach Freud sehr stark verbunden mit der aufblühenden Sexualität der jungen Erwachsenen. Freud zitiert hierzu Paul Federn, der meint, dass ein guter Teil aller Fliegerträume Erektionsträume seien, was darauf hindeutet, dass es sich in Abeltjes Entwicklung eben auch um dessen sexuelles Erwachen handelt. Auch bei Joke Van Leeuwen sehe ich diese Materie thematisiert. Wenn das Fliegen für Sexualität steht, so sind die Flügel Viegeltjes die offensichtliche Ausdrucksweise davon. Diese aber versuchen ihre Eltern, besonders ihre Mutter, vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Weiters sehe ich in den roten Schuhen Viegeltjes nicht nur die Akzentuierung ihrer Füße, also der Gleichheit mit ihren Eltern, sondern in dem Moment, in dem sie türmt und sie auf dem WC-Deckel zurücklässt, auch ein Anzeichen für die erste Menstruation des Mädchens und somit das Erwachen seiner Sexualität.
Die Tatsache, dass dieser Vorgang so sehr mit Freiheit einhergeht, zeigt hier wieder einmal auf, dass Psychologie und Soziologie ineinandergreifen. Eva Poluda meint hierzu, dass sich die historischen Bedinungen für das Erblühen der Sexualität bei Mädchen nach der 68er Bewegung grundlegend geändert haben. Zuvor waren die Väter ein starker Machtpol innerhalb der familiären Struktur. Meist waren es sie, die entschieden wen die Töchter heiraten würden und somit kamen diese aus dem Schoß des Vaters in die Arme von dessen Kopie, was für Freud dazu führte, dass Frauen niemals erfolgreich erwachsen werden konnten. Die Emanzipationsbewegung der 68er aber, so konstatiert Poluda, ermöglichte es den Frauen, sich über dieses Konstrukt der Abhängigkeit hinwegzuheben und somit bezeichnet dieser Zeitpunkt in der Geschichte den Untergang des Ödipuskomplex.
Vergleicht man hier Annie M. G. Schmidts Werk mit dem von Joke Van Leeuwen, so sieht man, dass damals mit der Entwicklung des Mädchens in der Geschichte, Laura, ganz anders umgegangen wurde. Während Abeltje und dessen Entfaltung sehr viel Raum bekommen, taucht Laura nur als Randfigur auf. Ihre Adoleszenz wird wohl auch
thematisiert, auf ganz andere Weise aber. In der Zeit des Erwachens der Sexualität erfolgt häufig ein Bruch mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil. Das klassische Element der Märchen, um dies zu veranschaulichen, ist das der bösen Stiefmutter. Auch Schmidt bedient sich dieser Metapher, Lauras leibliche Eltern sind verzogen und sie lebt bei ihrer bösen Tante, die sich kaum um sie kümmert. Die Auflösung der zuvor behandelten Problematik, des Ödipuskomplex also, wird nicht thematisiert. Laura wird zwar erwachsen, hebt sich über ihre Mutter hinaus, indem sie ab nun bei einer anderen Frau wohnt. Eigenständig und emanzipiert wie Viegeltje ist sie allerdings nicht.
So viel zur Gegenüberstellung der beiden Werke, es war mir in dieser Arbeit aber auch wichtig, die beiden Autorinnen im Spiegel der jeweils anderen zu betrachten. Denn wenn es um niederländische Kinderliteratur geht, so ist es kaum möglich, an dem Namen Anni M. G. Schmidt vorbeizukommen. Sie ist eine der bedeutendsten Personen, die die niederländische Kinderbuchwelt zu bieten hat und so ergibt es sich, dass man, sowohl als Autor als auch als Leser, wohl immer eine ihrer Geschichten im Hinterkopf hat. Unter diesem Gesichtspunkt scheint es für mich eindeutig, dass es eine Beeinflussung zwischen den beiden Autorinnen gibt. Sei es nun, dass Joke Van Leeuwen direkt von ihrer Vorgängerin beeinflusst wurde oder aber, dass wir als Leser diese Verknüpfung, bewusst oder unbewusst, herstellen. Dies halte ich für sehr wichtig, da wir Dinge durch den Bezug zu etwas anderem mit ganz anderen Augen wahrnehmen. Sehen wir zum Beispiel ein Kleidungsstück, so finden wir es vielleicht hübsch. Wissen wir aber, wo es hergestellt wurde, wer es gemacht hat und warum, so bekommt es unmittelbar eine neue Bedeutung und wir tragen es ganz anders. So ist es auch mit Büchern. Ihr Hintergrund und der Bezug zu anderen Werken sind nicht unbedingt nötig, wissen wir aber einmal, was alles darauf eingewirkt hat, so ändert sich unser Blick darauf und es ergeben sich neue Verknüpfungen in uns, die uns dazu bringen, unsere Gedanken darüber weiterzuspinnen und einen umfassenderen Eindruck zu gewinnen.
Gemeinsamkeiten finden sich zur Genüge im Lebenslauf der beiden. Die, die ich am interessantesten finde, ist wohl deren Unwille, sich in eine Schublade stecken zu lassen. Ein Großteil aller Künstler ist nicht nur auf einem Gebiet tätig, sondern vielseitig begabt. Wenigen aber gelingt es auch, sich auf mehreren Ebenen etablieren zu können. Sowohl Annie M. G. Schmidt als auch Joke Van Leeuwen wollten und konnten sich nie damit begnügen, „nur“ Kinderbuchautorinnen zu sein. Beiden lag das Dichten ebenso im Blut. Schmidt schrieb zahlreiche Stücke fürs Theater, Van Leeuwen fühlt sich ebenso auf der Bühne als Kabarettistin zu Hause und illustriert erfolgreich ihre eigenen Bücher. Auch wenn die Genres, in denen die Autorinnen sonst noch Fuß gefasst haben, verschiedene sind, so eint sie doch, ihr Kampfgeist für die Verwirklichung ihrer Träume und das Umsetzen ihrer Talente. Was beide außerdem verbindet, ist ein ungemeines Sprachgefühl und das Vermögen, Geschichten zwischen den Zeilen ihrer Erzählungen entstehen zu lassen, was man deutlich an den beiden hier behandelten Büchern erkennen kann. Auf den ersten Blick geht es in keiner der Geschichten um den Prozess des Erwachsenwerdens, man kann die beiden Werke auch „einfach“ als Abenteuer erfahren. Liest man allerdings ein wenig zwischen den Zeilen, so erkennt man in den Parallelen zu Psychologie und Soziologie eine weitere spannende Ebene. Es finden sich also im Lebenslauf beider Autorinnen einige Parallelen, auch in den Büchern wird ein ähnliches Thema behandelt. Es wird aber im Zuge des Vergleichs auch sichtbar, dass sie just nicht gleich schrieben. Während sich beide mit dem Prozess des Erwachsenwerdens und dem Element des Fliegens befassen, sehen sie diese Elemente doch durch eine ganz andere Brille. Schmidt geht auf die Entwicklung des Kindes ein, Van Leeuwen legt den Fokus eher auf die Eltern und die Umwelt. Auch diese Ungleichheit birgt viel Spannendes, denn sie zeigt wieder einmal die Individualität und Originalität der beiden Autorinnen auf. In diesem Wechselspiel aus Ähnlichkeit und Andersheit wird jede der Künstlerinnen an der jeweils anderen sichtbar und einzigartig. Dies noch einmal aufzuzeigen ist mir sehr wichtig, da ein Vergleich oft ein Machtgefälle impliziert. In meiner Arbeit habe ich aber deutlich herausgearbeitet, warum es ein solches eben nicht gibt, und dass Einfluss unvermeidbar ist. Auch er ist ein Zeichen für die Verbindung zwischen Soziologie und Literatur, denn jeder Autor schreibt in seiner Zeit und wird von ihr beeinflusst. Dieser Vorgang ist jedoch kein statischer, denn auch heute noch kann ein Werk wie Abeltje, das in den 50er Jahren erschien, von einem rezenten Werk wie Iep! in den Köpfen der Leser beeinflusst werden. Es ist also nicht so, dass nur die Vergangenheit ins Hier und Jetzt reicht, sondern das Heute geht ebenso zurück und hebt die chronologisch strukturierte Betrachtung der Kunst auf.
Schlagwörter
Schlagwörter
(Deutsch)
Literaturpsychologische sowie literaturpsychologische Untersuchung, ob sich der Prozess des Erwachsenwerdens in den Niederlanden zwischen den 50er Jahren und den 90er Jahren verändert hat und ob sich dies in der Kinderliteratur wiederspiegelt Vergleich anhand zweier Autorinnen - Annie M. G. Schmidt und Joke Van Leeuwen
Autor*innen
Maria-Elisabeth Porsch
Haupttitel (Deutsch)
Kinder verlassen das Nest
Hauptuntertitel (Deutsch)
der Prozess des Erwachsenwerdens in der niederländischen Kinderliteratur in den 50er und 90er Jahren ; ein Vergleich zwischen Annie M.G. Schmidt und Joke Van Leeuwe
Publikationsjahr
2010
Umfangsangabe
115 S. : graph. Darst.
Sprache
Deutsch
Beurteiler*in
Herbert Van Uffelen
AC Nummer
AC08046869
Utheses ID
7927
Studienkennzahl
UA | 396 | | |