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Kognitive Ordnungsbildung bei Literaturprozessen
empirische Untersuchungen auf dem Gebiet der Rezeption
Daria Irene Christine Hagemeister
Art der Arbeit
Diplomarbeit
Universität
Universität Wien
Fakultät
Philologisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät
Betreuer*in
Richard Schrodt
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Alle Rechte vorbehalten / All rights reserved
DOI
10.25365/thesis.10185
URN
urn:nbn:at:at-ubw:1-29515.55425.918962-5
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(Print-Exemplar eventuell in Bibliothek verfügbar)

Abstracts

Abstract
(Deutsch)
In der vorliegenden Arbeit befasse ich mich mit empirischen Methoden, die man auf dem Gebiet der Literaturwissenschaft anwenden kann. Die Geistes- und Literaturwissenschaften sehen großteils von der psychologischen Grundvoraussetzung von Geist, Kunst und Erzählung ab, doch nicht nur von der psychischen Verfassung der an den Literaturprozessen beteiligten Menschen und der wichtigen psycho- und handlungslogischen Dimension des Erzählens, sondern auch von dessen psycho-affektiven Funktionen. Neue Erkenntnisse der Biologie, der Hirnforschung und der Psychologie zeigen uns, dass die Zweiteilung der Wissenschaften in Natur- und Geisteswissenschaften nicht mehr angebracht ist. Die Untersuchung von Literaturprozessen muss heutzutage unter Berücksichtigung unseres Wissens über Struktur und Funktionsweise der menschlichen Kognition erfolgen. Ich habe daher den Versuch unternommen, die Anwendungsmöglichkeiten einiger dieser Auffassungen und Forderungen, aber auch deren Grenzen auf dem Gebiet der ELW (= Empirischen Literaturwissenschaft) aufzuzeigen. Vor allem geht es mir dabei um den empirischen Leser, mit all seinen biologisch-psychischen, historisch-kulturellen Voraussetzungen, der den impliziten Leser ablöst. Daher findet man im 1. Teil meiner Arbeit einen kleinen Exkurs auf das Gebiet der kognitiven Psychologie, der Neurobiologie und der Hirnforschung. Seit den 60er Jahren des 20. Jhdts. hat sich eine selbstständige Teildisziplin der Linguistik, nämlich die sogenannte Textlinguistik, zu einem interdisziplinären Forschungsfeld ausgeweitet, welches die Gesamtheit der sprachwissenschaftlichen Untersuchungen, die Texte betreffen, umfasst, und die allgemeinen Bedingungen und Regeln der Textkonstitution, die den konkreten Texten zugrunde liegen, systematisch zu beschreiben und ihre Bedeutung für die Textrezeption zu erklären versucht. Die Rezeption eines Textes erfolgt demnach aufgrund der strategischen Aktivierung von Schemata (Scripts, Frames), wobei aktualisiertes Weltwissen, Sprachwissen und Geschichts- und Narrationswissen eine zentrale Rolle spielen. Die Interdependenzen zwischen Text und Person hat Kurt Lewin in seiner gestaltpsychologischen „Lebensraum-Theorie“ dargestellt, die besagt, dass „Bedürfnisse“ von den Objekten (= Texten) ausgehen. Die Objekte haben Eigenschaften, die eine Aktivität der Person (= Rezipienten) erfordern, sogenannte „Gefordertheiten“. Diese können mittels Lückenschließungs- oder Reproduktionsexperimenten empirisch untersucht werden. Analog zu den gewählten Verstehensstrategien und Verstehenszielen werden diese Prozesse im Sinne der Produktion von Kohärenz und Sinnkonstanz reguliert. Verstehenserwartungen sind vom Schemawissen der Rezipienten abhängig. Makrostrukturell werden die einzelnen Teilprozesse koordiniert. Der interpersonellen und situativen Dimension der inneren Ordnungsbildung fällt bei der kreativen Gestaltung, aber auch beim Rezipieren von Texten, was eigentlich auch wieder ein kreativer Vorgang ist, eine große Bedeutung zu. Diese innere Ordnungsbildung kann aus psychologischer, linguistischer, aber natürlich auch aus neurobiologischer Sicht beleuchtet werden. Der linguistische Ansatz der Textlinguistik arbeitete mit Begriffen wie: Zentrierungen, Gleichgewichten, Instabilitäten, globaleren Bewegungen, strukturellen Umformungen, Hervorhebungen und Lückenschließungen, wobei es verschiedene Ansätze gibt. Ein psychologisches Prozessmodell des Textverstehens ist das „Construction-Integration-Modell“, welches in den Schnittbereich der Psycholinguistik und der Kognitionswissenschaft einzuordnen ist und sich mit dem Lesen und Verstehen geschriebener Texte, sowie dem Hören und Verstehen von Diskursen befasst. Siegfried J. Schmidt, dessen Name eng mit dem interdisziplinären Forschungsprogramm des Radikalen Konstruktivismus verbunden ist, ist der Begründer eines neuen Literatursystems und der Wegbereiter eines Paradigmenwechsels im Sinne einer kognitiven Wende auf dem Gebiet der Literaturwissenschaft. Die ELW (= Empirische Literaturwissenschaft), die sich dadurch entwickelt hat, untersucht die kommunikative Funktion von literarischen Texten (= Kommunikaten). Man möchte vielleicht meinen, Konstruktivismus und empirische Forschung seien ein Widerspruch, da konsequenterweise ja auch das Wissen um neurologische Vorgänge als Konstrukt eingestuft werden müsste. Außerdem kann die Hirnforschung zwar über die Ursachen menschlichen Handelns Auskunft geben, nicht aber über die Gründe. Über diese weiß man tatsächlich wenig, denn noch ist es – trotz verbesserter bildgebender Methoden - nicht möglich, neuronale Vorgänge detailliert spezifischen Inhalten zuzuordnen. Man kann zwar Aktivitäten, die beim Denken auftreten, sichtbar machen, aber bisher kann man semantische Inhalte nicht erfassen. Dennoch wurden diese Konzeptionen für die sprach- und bedeutungstheoretischen Annahmen im Sinne der Empirischen Literaturwissenschaft auf der Basis der NIKOL-Konzeption relevant. Die NIKOL-Gruppe erklärte die hermeneutische Textinterpretation als obsolet. Es konnte nun nicht mehr um eine Interpretation von Literatur im herkömmlichen Sinn gehen, sondern um die Beschreibung und Erklärung von Literaturprozessen innerhalb des Literatursystems. Der Mensch wurde als ein erzählendes Wesen, erfasst, weil die mentalen und interaktionalen Prozesse der Narration es sind, die die Grundeinheit des menschlichen Wahrnehmens, Denkens und Handelns überhaupt darstellen. Der Aspekt der Anwendung literaturwissenschaftlichen Wissens und der funktionale Wert literarischer Texte wurde erörtert, wodurch die Kanonisierung bestimmter Werke in Frage gestellt wurde. Diese neuen Ideen führten aber auch dazu, dass man verschiedene Begriffe neu definieren musste. Es ging nun nicht mehr um eine Interpretation von Literatur im herkömmlichen Sinn, sondern man musste Literaturprozesse innerhalb des Literatursystems beschreiben und erklären, dabei formulierte man 4 elementare Handlungstypen: die Produktion, die Vermittlung, die Rezeption und die Verarbeitung von Literatur. Das literarische Kommunikat konnte nun, sobald es um Dimensionen der Semantik ging, nicht mehr strukturell beschrieben werden. Man musste die Aktanten (= Sprachhandelnden) miteinbeziehen, denn Text-Bedeutungen realisieren sich erst im kognitiven Bereich der Aktanten. Die literarische Rezeption wurde als konstruktive Bildung von Kommunikaten in Bezug auf die Textbasis verstanden. Die Konzepte literarischer Rezeption basierten nun vor allem auf den Erkenntnissen der Kognitions- und Sprachpsychologie, ferner wirkten sich soziopsychologische und individuelle Rezeptionsvoraussetzungen auf die Bedeutungszuweisung und Ordnungsbildung beim Verstehen von literarischen Kommunikaten aus. In den späten 80er Jahren stellten Wildgen und Stadler empirische Untersuchungen an, die sich vor allem auf gestaltpsychologische und dynamische textlinguistische Methoden stützten, mittels derer sie die Gefordertheiten der Texte und deren Wirkung auf die kognitiven Operationen der Rezipienten bei der Reproduktion untersuchten. Da diese Reproduktionsexperimente bereits 23 Jahre alt sind und in der Zwischenzeit eigentlich kaum derartige Untersuchungen durchgeführt worden waren, habe ich dieses Experiment mit anderen Texten, aber ähnlichen Methoden wiederholt. Die Befunde von Wildgen und Stadler lassen sich durch meine Untersuchungsergebnisse allerdings nur teilweise bestätigen. Die von ihnen angewandten Methoden mögen vielleicht bei sehr kurzen, emotional eher unverfänglichen und wenig komplexen Texten ihre Berechtigung haben. Bei längeren, komplexeren Texten, sowie bei sprachexperimenteller Prosa zeigen sich bereits die Schwierigkeiten dieser Methoden. Aufgrund der Ergebnisse meiner Reproduktionsexperimente wage ich zu bezweifeln, dass die Gefordertheiten immer nur einseitig von den wahrgenommenen Objekten ausgehen. Ich denke, dass generell gestaltpsychologische Phänomene im visuellen Bereich eine größere Rolle spielen als bei Literaturprozessen. Schließlich handelt es sich hier um meist sehr komplexe Texte, die auch eine komplexe kognitive Verarbeitung auf mehreren Ebenen erfordern, und dies mag wohl der Grund dafür sein, warum gestaltpsychologische Erklärungen sich auf dem Gebiet der Textrezeption nicht wirklich durchgesetzt haben. Aus diesem Grund stellt sich aber auch die Frage nach der Richtigkeit einer Reproduktion erst gar nicht objektiv und prinzipiell. Die Kohärenz, Kontinuität oder Stabilität eines Textes könnte sich nämlich auf einer anderen Ebene als der der Erlebnisse und Ereignisse abspielen, nämlich auf der Assoziations- oder auf der Konnotationsebene, auf einer völlig unbewussten, emotionalen Ebene, unter Mitwirkung des nicht-deklarativen Gedächtnisses. Ich schlage daher vor, die Ebene der Ereignisse und der Handlungen einer Geschichte als deren Oberflächenstruktur zu bezeichnen, die teils unbewusste Ebene, die für die Bedeutungszuweisung relevant ist, hingegen als die Tiefenstruktur einer Geschichte. Aufgrund der Projektion der Tiefenstruktur auf die Oberflächenstruktur kommt es bei der Rezeption und Reproduktion von narrativen Texten zu verschiedenen Transformationen, in die die jeweilige Oberflächenstruktur überführt wird. Da die Tiefenstruktur aber selbst dem Bewusstsein der Rezipienten nicht zur Gänze zugänglich ist, kann sie auch mittels unserer derzeitigen technischen Methoden nicht empirisch untersucht werden, und somit muss man sich mit der Erfassung von Performanzdaten (= Reproduktionen von Texten, eigenen Angaben der Testpersonen in den Fragebögen) begnügen, die wenigstens als Indikatoren für die Existenz bestimmter Struktur- und Prozesseigenschaften mentaler Systeme dienen können.

Schlagwörter

Schlagwörter
(Deutsch)
Kognitive Linguistik Textlinguistik Rezeption Reproduktionsexperimente Konstruktivismus Empirische Literaturwissenschaft
Autor*innen
Daria Irene Christine Hagemeister
Haupttitel (Deutsch)
Kognitive Ordnungsbildung bei Literaturprozessen
Hauptuntertitel (Deutsch)
empirische Untersuchungen auf dem Gebiet der Rezeption
Publikationsjahr
2010
Umfangsangabe
212 S.
Sprache
Deutsch
Beurteiler*in
Richard Schrodt
Klassifikationen
17 Sprach- und Literaturwissenschaft > 17.10 Sprache in Beziehung zu anderen Bereichen der Wissenschaft und Kultur ,
18 Einzelne Sprachen und Literaturen > 18.08 Deutsche Sprache und Literatur
AC Nummer
AC08175623
Utheses ID
9203
Studienkennzahl
UA | 332 | | |
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