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Die Wahlen zu den konstituierenden Parlamenten von 1848 in Niederösterreich und im Pariser Umland (Seine-et-Oise)
Thomas Stockinger
Art der Arbeit
Dissertation
Universität
Universität Wien
Fakultät
Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät
Betreuer*in
Wolfgang Schmale
DOI
10.25365/thesis.10760
URN
urn:nbn:at:at-ubw:1-29066.66383.882470-4
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(Print-Exemplar eventuell in Bibliothek verfügbar)
Abstracts
Abstract
(Deutsch)
Die vorliegende Dissertation befaßt sich mit den Wahlen zum konstituierenden Reichstag in Österreich im Juni 1848 im Vergleich mit jenen zur konstituierenden Nationalversammlung in Frankreich im April desselben Jahres, und zwar unter dem besonderen Blickwinkel ihrer Rolle für die Verbreitung neuer – insbesondere elektoraler und repräsentativer – Politikvorstellungen und Praktiken im ländlichen Raum. Dem Ansatz zugrunde liegen einige der Begrifflichkeiten der in Frankreich seit Jahrzehnten geführten Debatte um die „Politisierung“ (politisation) der Landbevölkerung. Um eine quellennahe und detaillierte Darstellung zu ermöglichen, wurden als Untersuchungsgebiete das Land Niederösterreich (ohne Wien) sowie das Umland von Paris, das ehemalige Département Seine-et-Oise, gewählt.
Nach einer Darstellung theoretischer und methodischer Ausgangspositionen zur Anwendung des international vergleichenden Ansatzes in der Geschichtswissenschaft folgt eine kurze Wiedergabe der Debatten um die „Politisierung“ einschließlich neuerer Kritiken an diesem Konzept (Kapitel 2). Als Ergebnis hieraus wird der Ansatz für die vorliegende Dissertation formuliert, nicht von einer „Politisierung“ gegenüber einem „apolitischen“ Ausgangszustand der ländlichen Bevölkerungen auszugehen, sondern vielmehr von einem komplexen Bündel differenziert zu analysierender Wandlungen ländlicher Politik. Für die Untersuchung dieser einzelnen Aspekte erweisen sich jedoch viele der in diesen Debatten vorgezeigten Ansätze und Fragestellungen als potentiell nützlich.
In einem ersten Teil der Untersuchung erfolgt eine komparative Darstellung der demographischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der beiden Untersuchungsräume in ihrer Entwicklung während der Jahrzehnte vor 1848 (Kapitel 3), weiters der kulturellen und mentalen Voraussetzungen der ländlichen Bevölkerungen im Hinblick auf Mobilität und Kommunikation, auf Alphabetisierung und Mediennutzung, auf religiöses Verhalten sowie auf Erfahrungen mit politischer Partizipation und Interessenartikulation allgemein und mit Wahlen im besonderen (Kapitel 4). Diese Ausführungen dienen sowohl einer Kontextualisierung der Wahlen von 1848 als auch der Abklärung, inwieweit die beiden Fälle vergleichbar sind.
Es folgt eine knappe Darstellung der Revolutionen von 1848 in den beiden Gebieten unter besonderer Beachtung ihrer Erscheinungsformen im ländlichen Raum (Kapitel 5). Daß Politik auch in den Dörfern in diesem Jahr revolutionäre Politik war oder zumindest sein konnte, ist zu einer Einordnung der Wahlen essentiell.
Ausführlicher verglichen werden die Rechtsgrundlagen der beiden Wahlen, die Vorgänge der administrativen Vorbereitung sowie der Wahlinformation und Wahlwerbung (Kapitel 6). In ihnen werden Modelle elektoraler Politik gesehen, die von neuen und alten politischen Eliten in beiden Staaten angesichts der revolutionären Situation aus zu bestimmenden Intentionen entworfen und mit den ihnen verfügbaren Kommunikations- und Machtmitteln an die Bevölkerungen herangetragen wurden.
Der eigentliche Wahlvorgang wird zunächst in seiner prozeduralen Dimension eingehend geschildert, bevor eine Analyse der Wahlentscheidungen versucht wird (Kapitel 7). Auf diesem Wege wird sichtbar gemacht, daß unterschiedliche Vorstellungen über Sinn und Funktionsweise von Wahlen konkurrierten, sich aber auch miteinander vermischten. Dies betrifft nicht nur die Divergenzen zwischen den in Kapitel 6 analysierten Modellen der Eliten, sondern auch deren Aufeinandertreffen mit in der breiteren Bevölkerung vorhandenen Vorstellungen, die von ihnen teils essentiell abwichen. Dies ist in Niederösterreich, dessen ländliche Wähler das vorgegebene Wahlmodell ausgehend von älteren Vorstellungen und Praktiken der Interessenartikulation, die auf ständischer Gliederung der Gesellschaft und auf Delegation mit gebundenem Mandat beruhten, teils verweigerten, häufiger aber umdeuteten und umfunktionierten, gut zu beobachten; in Seine-et-Oise sind Verhaltensweisen, die für abweichende Vorstellungen von Repräsentation und Wahlen sprechen, in marginalem Ausmaß neben einer viel weitergehenden Akzeptanz des von den Eliten vorgegebenen Modells zu finden.
Obwohl die Unterschiede zwischen den untersuchten Fällen beträchtlich sind und beide vom heute etablierten Idealbild demokratischer Wahlen beträchtlich abweichen, lassen sie sich in die Geschichte vielfältiger Veränderungen einordnen, in deren Verlauf ältere Vorstellungen vom Wählen im besonderen, von Politik im allgemeinen allmählich durch Elemente heute bekannter Modelle verdrängt wurden.
Abstract
(Englisch)
The present dissertation deals with the elections to the Austrian Constituent Diet in June 1848, compared with those to the French National Assembly in April of the same year, with a special focus on their role for the dissemination of new concepts and practices of politics, and particularly electoral and representative politics, in rural areas. The approach is based on some of the terminology of the debate on the “politicization” (politisation) of rural populations which has been conducted in France during the past decades. To facilitate a detailed analysis closely based on primary sources, the study is limited to two regions, the province of Lower Austria (excluding Vienna) and the former department of Seine-et-Oise, surrounding Paris.
After a summary of theoretical and methodical positions regarding the use of international comparison in history, a brief presentation of the debates on “politicization” is intended to familiarize the reader both with the concept and with recent criticisms of it (Chapter 2). The resulting approach for the present dissertation is based on the idea not of “politicization” versus a prior “apolitical” condition of rural populations, but rather of a complex of interconnected but not identical shifts in rural concepts and practices of politics. For a differentiated analysis of these, many of the questions and approaches formulated in the “politicization” debates can be of use.
In a first section, the demographic, economic and social conditions of the two regions are presented and compared, including their development in the decades before 1848 (Chapter 3), as are intellectual preconditions regarding mobility and communications, literacy and media use, religious behavior, and prior experiences with political participation in general and elections in particular (Chapter 4). These two chapters serve both to contextualize the 1848 elections and to clarify the degree of comparability between the two cases.
The revolutions of 1848 are briefly described with particular attention devoted to the forms they took in rural areas (Chapter 5). That politics in that year were or could be revolutionary politics in the villages as well as in the cities is an essential perspective for the interpretation of the elections.
The legal and normative framework of the elections is compared in detail, as are administrative preparations and the processes of electoral information and campaigning (Chapter 6). These are viewed as efforts by which models of electoral politics proposed by new and old political elites in both countries, and with specific intentions, were put before the populations using the power and communicative resources at the disposal of the elites.
The elections themselves are first closely described under their procedural aspect; then an analysis of voting behavior is attempted (Chapter 7). These multiple perspectives demonstrate that divergent notions of the meaning and function of elections competed, but also intermixed. This concerns not only rivalry between the elite-proposed models described in Chapter 6, but also their meeting with concepts held by members of the wider population, which in some cases differed essentially from them. In Lower Austria, considerable numbers of rural voters either rejected or, more frequently, reinterpreted and subverted the proposed electoral model on the basis older notions and practices of political articulation involving a corporate subdivision of society and delegation with limited mandates. In Seine-et-Oise, behaviors pointing to divergent notions of election are comparatively marginal next to a much more general acceptance of the proposed model.
Although the two cases studied differ considerably from one another, and both have only quite limited resemblance to late 20th-century ideals of democratic elections, both can be situated within a complex history of the gradual displacement of older concepts of elections specifically and of politics in general by elements of those familiar in the present.
Schlagwörter
Schlagwörter
(Englisch)
history politics Austria Lower Austria France Seine-et-Oise elections diet National Assembly 1848
Schlagwörter
(Deutsch)
Geschichte Politik Österreich Niederösterreich Frankreich Seine-et-Oise Wahlen Reichstag Nationalversammlung 1848
Autor*innen
Thomas Stockinger
Haupttitel (Deutsch)
Die Wahlen zu den konstituierenden Parlamenten von 1848 in Niederösterreich und im Pariser Umland (Seine-et-Oise)
Paralleltitel (Englisch)
The Elections to the Constituent Parliaments of 1848 in Lower Austria and Seine-et-Oise
Publikationsjahr
2010
Umfangsangabe
919 S.
Sprache
Deutsch
Beurteiler*innen
Wolfgang Schmale ,
Ernst Bruckmüller
Klassifikationen
15 Geschichte > 15.06 Politische Geschichte ,
15 Geschichte > 15.36 Europäische Geschichte 1815-1914 ,
15 Geschichte > 15.60 Schweiz, Österreich-Ungarn, Österreich ,
15 Geschichte > 15.65 Frankreich ,
89 Politologie > 89.35 Demokratie ,
89 Politologie > 89.42 Staat und Bürger ,
89 Politologie > 89.56 Politische Kommunikation ,
89 Politologie > 89.57 Politische Beteiligung
AC Nummer
AC08208757
Utheses ID
9712
Studienkennzahl
UA | 092 | 312 | |